Predigt vom 20. Sonntag nach Trinitatis, 17. Oktober 2021, Michaelsfest

Predigt zu 1. Mose 21, 8-15; 20. Sonntag nach Trinitatis, Michaelsfest, 17. Oktober 2021, 10.00 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Pfarrer Stefan Köttig

(…) das Kind wuchs heran und wurde entwöhnt. Und Abraham machte ein großes Mahl am Tage, da Isaak entwöhnt wurde. Und Sara sah den Sohn Hagars, der Ägypterin, den sie Abraham geboren hatte, dass er lachte. Da sprach sie zu Abraham: Vertreibe diese Magd mit ihrem Sohn; denn der Sohn dieser Magd soll nicht erben mit meinem Sohn Isaak. Das Wort missfiel Abraham sehr um seines Sohnes willen. Aber Gott sprach zu ihm: Lass es dir nicht missfallen wegen des Knaben und der Magd. Alles, was Sara dir gesagt hat, dem gehorche; denn nach Isaak soll dein Geschlecht genannt werden. Aber auch den Sohn der Magd will ich zu einem Volk machen, weil er dein Sohn ist. Da stand Abraham früh am Morgen auf und nahm Brot und einen Schlauch mit Wasser und legte es Hagar auf ihre Schulter, dazu den Knaben, und schickte sie fort. Da zog sie hin und irrte in der Wüste umher bei Beerscheba. Als nun das Wasser in dem Schlauch ausgegangen war, warf sie den Knaben unter einen Strauch und ging hin und setzte sich gegenüber von ferne, einen Bogenschuss weit; denn sie sprach: Ich kann nicht ansehen des Knaben Sterben. Und sie setzte sich gegenüber und erhob ihre Stimme und weinte. Da erhörte Gott die Stimme des Knaben. Und der Engel Gottes rief Hagar vom Himmel her und sprach zu ihr: Was ist dir, Hagar? Fürchte dich nicht; denn Gott hat gehört die Stimme des Knaben dort, wo er liegt. Steh auf, nimm den Knaben und führe ihn an deiner Hand; denn ich will ihn zum großen Volk machen. Und Gott tat ihr die Augen auf, dass sie einen Wasserbrunnen sah. Da ging sie hin und füllte den Schlauch mit Wasser und gab dem Knaben zu trinken. Und Gott war mit dem Knaben. Der wuchs heran und wohnte in der Wüste und wurde ein Bogenschütze. Und er wohnte in der Wüste Paran und seine Mutter nahm ihm eine Frau aus Ägyptenland. (1. Mose 21,8-15, Lutherbibel 2017, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart)

Wenn ich im Konfirmandenunterricht in der Zeit um Michaelis herum mit den Jugendlichen über Engel spreche, lasse ich einen Steckbrief anfertigen. „Was meint ihr, woran erkennt man einen Engel?“, frage ich die Jugendlichen. Es überrascht sicher keinen von uns, dass auf dem Phantombild, das wir dann gemeinsam anfertigen, am Ende stets so etwas wie ein Rauschgoldengel zu sehen ist. So stellt man sich nun mal Engel vor. Ganz anders tritt der Engel in dem Gedicht auf, das wir dann gemeinsam lesen. Vielleicht kennen Sie es. Es heißt „Der Engel bei Bolt an der Ecke“ und stammt aus der Feder des Dichters und Pädagogen Rudolf Otto Wiemer.

Der Engel bei Bolt an der Ecke,

der hat heute viel zu tun:

Die Kinder vom Stadtrandviertel,

die rennen auf raschen Schuh'n.

Sie laufen hinter dem Ball her,

der Ball, der rollt und rollt.

Doch die Autos sieht nur der Engel,

der steht, wie gesagt, bei Bolt.

Bei Bolt, dem Schuhwarenladen,

da steht der Engel und wacht.

Er schwingt seinen Stock und gibt

auf die spielenden Kinder acht.

Man weiß, er heißt Gottlieb Zille

und sieht auch genauso aus,

mit Bart und Zigarre und Brille;

der Rentner vom Hinterhaus.“

Da spielt Rudolf Otto Wiemer wohl an den Maler, Grafiker und Fotograf Heinrich Zille an, genannt „Pinselheinrich“, der von 1858 bis 1929 gelebt hat. Das Berliner Milieu der kleinen Leute hat er festgehalten wie kein anderer. Auf vielen Bildern und Fotografien erscheint er uns als gutmütig wirkender Mann mit breiter Nase und dichtem Backenbart. Nicht mit einer Harfe in der Hand, sondern mit einer Zigarre im Mundwinkel tritt er auf. Geduldig schaut er zu, wie die Kinder Ball spielen, „auf raschen Schuhen.“ Ich male mir aus, wie das ist, wenn er eingreift. Das geschieht unvermutet und schnell. Er beginnt zu laufen, schwingt den Stock, schimpft wie ein Rohrspatz und scheucht die Kinder weg vom Straßenrand. So sorgt er dafür, dass keines von ihnen unter die Räder kommt. Wenn die Gefahr vorbei ist, zieht er sich wieder zurück, schüttelt den Kopf, weil die Jugend von heute einfach keine Augen im Kopf hat und zieht weiter genüsslich an seiner Zigarre. Dann ist er wieder ganz und gar der Rentner vom Hinterhaus, mit Bart und Brille…

So mögen sie sich also unters Volk mischen, die Engel. Sie halten sich zurück und greifen erst ein, wenn es nötig ist, wenn Gefahr droht, zum Beispiel, wenn Kinder auf raschen Schuhen spielen oder Erwachsene den Lebensmut verlieren. Darum geht es heute, genauer gesagt geht es um zwei Menschen, eine Mutter und ihr Kind, um Hagar und Ismael. In dem Gedicht von Rudolf Otto Wiemer drohen Kinder unter die Räder der Autos zu kommen. Davor hat sie der Engel von Bolt an der Ecke bewahrt. Auch in der Geschichte aus dem Alten Testament kommt ein Kind gewissermaßen unter die Räder. Es fällt den Plänen einer ehrgeizigen Familienpolitik zum Opfer. Da kommt dann ein Engel ins Spiel. Einer, der wohl längst da war, so stelle ich mir das vor, einer, der sich im Hintergrund aufgehalten und gewartet hat, bis Gott ihm gesagt hat: „Jetzt ist es soweit, jetzt musst du handeln! Hagar kommt allein nicht mehr zurecht.“

Hagar! Das war eine ägyptische Sklavin. Sie war Sara zu Diensten. In ihrem Auftrag hatte sie das Bett mit Abraham geteilt. Nachdem es bei Abraham und Sara mit dem Nachwuchs nicht geklappt hatte, sollte Hagar einspringen, gewissermaßen in Vertretung für Sara, sie sollte mit Abraham schlafen, um ein Kind zu empfangen und um es auszutragen. Der Plan ging auf, Hagar wurde schwanger und gebar Abraham einen Sohn, den Ismael. Nun sollte es aber geschehen, dass auch Sara wider Erwarten schwanger wurde und einen Sohn zur Welt brachte, Isaak. Ismael war jetzt für Sara ein Dorn im Auge oder ein Stachel im Fleisch, der weh tat, immer, wenn sie ihn sah oder hörte. Sie konnte es nicht ertragen, dass er mit Isaak zusammen aufwuchs und dass für ihren eigenen Sohn jetzt nur der zweite Platz zur Verfügung stand. Sie hörte wie Ismael lachte, lesen wir in der Bibel, und sie fasste einen Entschluss. Sie ging zu Abraham und sprach: „Vertreibe diese Magd mit ihrem Sohn, denn der Sohn dieser Magd soll nicht erben mit meinem Sohn!“

Und Abraham? „Dieses Wort missfiel Abraham“, lesen wir in der Bibel. Aber er fügt sich. Allerdings nicht, weil Sara es gesagt hat, sondern weil Gott sich einmischt. Gott sagt: „Lass es dir nicht missfallen, wegen des Knaben und der Magd. Alles, was Sara dir gesagt hat, dem gehorche, denn nach Isaak soll dein Geschlecht genannt werden. Aber auch den Sohn der Magd will ich zu einem Volk machen, weil er dein Sohn ist…“ Nun gut. Abrahams Reputation mag durch diese göttliche Korrektur wiederhergestellt sein. Aber ein schales Gefühl bleibt mir trotzdem, wenn ich mir vorstelle, wie der Erzvater zu der Frau geht, mit der er das Bett geteilt hat, frühmorgens, damit es möglichst wenige merken. Ich sehe ihn, wie er ihr Proviant in die Hand drückt, gerade mal so viel, dass das Überleben für einen oder zwei Tage in der Wüste gesichert ist, ein Brot und einen Schlauch mit Wasser, und ihr dann sagt, dass es für sie und ihr Kind keinen Platz mehr gibt im Lager und in seinem Leben. Sie soll gehen und zwar auf der Stelle! Keine Abfindung. Keine Versorgung. Vielmehr Vertreibung.

Da nimmt Hagar ihren Sohn an die Hand und schleicht sich mit ihm aus dem Lager. Vor ihr liegt die Wüste. Was für ein Lebensbild. Da ist nichts mehr von der stolzen, ja zornigen und selbstbewussten Frau zu sehen, von der die Bibel kurz zuvor noch berichtet hat. Eine Frau, die sich ihrer Position durchaus bewusst war. Jetzt irrte sie umher, lese ich. Die Pläne, die sie für ihr Kind und wohl auch für sich selbst geschmiedet hatte, sind null und nichtig. Nichts ist ihr geblieben. Nichts ist ihrem Sohn geblieben. Nichts außer einem Schlauch Wasser und einem Stück Brot. Alles andere soll Isaak bekommen, die Herden, das Vermögen, das Ansehen als Sohn und Stammhalter. Sie weiß, dass sie alles verloren hat.

Als das Wasser getrunken und das Brot verzehrt ist, gibt sie endgültig auf. Verzweifelt legt sie ihren Sohn unter einen Strauch und schleppt sich fort. Einen Bogenschuss weit stolpert sie weiter, lese ich. Wie weit das wohl sein mag? Am Ende bricht sie zusammen: „Ich kann nicht ansehen des Knaben Sterben“, klagt sie, fällt zu Boden und weint. Weint, bis sie eine Stimme hört. Es ist der Engel Gottes, der zu ihr spricht. „Was ist dir,“ fragt er sie und nimmt ihr die Angst. „Fürchte dich nicht,“ hört sie ihn sagen.

Wenn Engel den Menschen im Auftrag Gottes etwas zu sagen haben, müssen sie ihnen erst einmal die Furcht aus dem Herzen nehmen und Raum schaffen für das Wort, das an sie gerichtet wird, für die Botschaft, die sie überbringen. Die soll Wurzeln schlagen in ihrem Herzen. Angst ist da kein guter Nährboden und ebenso wenig Resignation oder Verzweiflung. Deshalb muss die Angst erst einmal aus dem Herzen ausgeräumt werden. Eine Lebensperspektive muss geschaffen werden durch das Wort, das der Engel spricht. „Fürchte dich nicht, denn Gott hat gehört die Stimme des Knaben, dort, wo er liegt. Steh auf, nimm den Knaben und führe ihn an deiner Hand; denn ich will ihn zum großen Volk machen…“

Das lässt sie aufblicken und ihr Blick beginnt sich wieder zu schärfen. Gott gibt ihr die Orientierung zurück, die sie verloren hatte. Mut und Lebenskraft kehren zurück. Sie findet sich wieder zurecht. Da ist ein Brunnen ganz in der Nähe, wie hatte sie das nur übersehen können! Am Ende findet sie für sich und ihren Sohn den Platz, den Gott ihr bereitet hat in der Geschichte. Die Wüste, diese unwirtliche Gegend, in die sie getrieben wurde um zu sterben, wird ihr zum Lebensort. Dort wächst Ismael zum Mann heran, „(…) und seine Mutter nahm ihn eine Frau aus Ägyptenland.“ Da ist sie wieder, die alte Hagar, die entscheidet und handelt. Ob das, was wir lesen, ein Happy End ist, sei dahingestellt. Da ist etwas, dass mich hoffen lässt, immer wieder, wenn ich die Geschichte lese und mich von ihr berühren lasse.

Woran erkennt man wohl einen Engel? Ich denke, diese Frage, die ich meinen Konfirmanden stelle, kann man nur beantworten, wenn man bereit ist, die üblichen Vorstellungen von dem, was möglich ist und was nicht, beiseite zu schieben, und wenn man neben dem Verstand auch das Herz sprechen lässt. Die biblischen Geschichten sind für mich manchmal wie ein Teich. Wenn das Wasser still ist und man hineinschaut, spiegelt sich in der Wasseroberfläche das eigene Leben, und in den Geschichten der Bibel kann man sich wiederfinden. Sicher nicht eins zu eins, aber so in etwa. Ich denke an die Begegnungen in meinem Leben, in denen jemand zu mir gesagt hat, „Was ist dir!“ Da sind die Momente, in denen ich merke, dass ich nicht allein gelassen bin, sondern wahrgenommen werde in meiner Not. Das sind die Momente, in denen meine Angst weniger geworden ist, weil einer gesagt hat: „Fürchte dich nicht!“

Ich ahne, wie das ist, wenn einen die guten Mächte wunderbar umgeben, von denen Dietrich Bonhoeffer einst geschrieben hat. Die Welt ist nicht sich selbst überlassen. Und ich bin mir auch nicht selbst überlassen. Ich glaube, dass Gott uns seinen Engel schickt, wenn wir ihn brauchen, einen Engel wie bei Bolt an der Ecke oder wie bei Hagar in der Wüste, einen der im entscheidenden Moment zu uns sagt: „Fürchte dich nicht“ und uns die Augen öffnet, dass wir den Brunnen finden. Ich glaube es, nicht, weil mein Verstand es mir sagt, sondern weil es mein Herz spürt, das Herz, der Ort, an dem die heilsamen Worte der Bibel zur Quelle werden, aus der ich Hoffnung und Vertrauen und Lebensmut schöpfe, so wie Hagar das Wasser aus der Zisterne geschöpft hat, um zu leben. 

Amen.

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