Predigt vom 20. Sonntag nach Trinitatis, 25. Oktober 2020

Predigt zu Markus 2, 23-28; 20. Sonntag nach Trinitatis, 25. Oktober 2020, 9.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Pfarrer Oliver Georg Hartmann

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Lasst uns in der Stille beten. Amen.

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

wie finden Sie Regeln? Finden Sie diese sinnvoll, weil sie unser Zusammenleben ordnen? Oder sind Regeln eher ein Störfaktor? Regeln engen mich in meiner Freiheit ein! Ich muss doch manchmal Regeln brechen, um auch etwas Sinnvolles und Gutes tun zu können. Wenn wir uns alle an Regeln halten würden, wo käme ich da hin. Hier und da ist ein Regelbruch notwendig.

In diesem Jahr spüre ich mehr und mehr, wie Regeln mein Leben bestimmen. Mund-Nase-Bedeckung hier, Desinfektion da und Lüften und Abstand dort. Regeln, ständig neue Bestimmungen, die Einhaltung muss gewährleistet sein: Und neben all dem die ständige Auseinandersetzung: Kann ich meine Familie noch sehen? Was ist mit dem Urlaub? Was mit der Wirtschaft? Was wiegt wichtiger? Die Nähe? Der Schutz? Wie soll das geregelt werden?

Weihnachten steht vor der Tür, und es mehren sich die Stimmen, die Ausnahmeregeln fordern: Keine Beschränkung für die Gottesdienste zu Heiligabend! Hier muss der Abstand aufgehoben werden! - Aber warum hier und nicht woanders? Warum sollte der Kirche eine Ausnahme von der Regel zugestanden werden? Warum nicht für die Weihnachtsmärkte, die Konzerte, die Sportveranstaltungen?

Wie finden Sie Regeln? Finden Sie diese sinnvoll, weil sie unser Zusammenleben ordnen? Oder sind Regeln eher ein Störfaktor?

Um Regeln geht es auch in unserem heutigen Predigttext.

Lasst uns hören auf Gottes Wort. So steht geschrieben im Evangelium des Markus im 2. Kapitel:

23 Und es begab sich, dass [Jesus] am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. 24 Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? 25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28 So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.

Der Herr segne sein Wort an uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

mein Professor in Zürich pflegte zu unserem Predigttext folgende Geschichte zu erzählen: „Es war an einem goldenen Sonntagmorgen im Herbst. Die Töpferin, die wir besuchten, wohnte auf dem Glaspass in einem Bauernhaus hoch über dem bündnerischen Safiental. Wir klopften an und hörten ihn – den Staubsauger! Die Töpferin öffnete die Türe und entschuldigte sich: „Ich weiss, s’ isch Sunntig!“ Wir hatten sie also ertappt! Die Frau auf dem Glaspass hatte mit ihrer Staubsaugerei sicher niemanden unverhältnismäßig gestört. Aber wir hatten sie gestört und jenen Reflex ausgelöst.“

Als ich von dieser Geschichte das erste Mal hörte, habe ich sie überhaupt nicht verstanden. Hat die Töpferin jetzt die Regel befolgt oder gebrochen? Es spricht ja eine Menge dafür, dass die Töpferin die Bibelgeschichte recht gut verstanden hat. Sie hat am Feiertag – also am Sabbat – einfach das gemacht, was sie wollte: nämlich staubsaugen. Und sie hat dabei nicht einmal jene gestört, die vielleicht nicht staubsagen wollten, sondern ruhen. Also staubsaugen ist erlaubt: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.

Warum aber, und so deute ich jetzt die Szene einmal, entschuldigt sich die Töpferin dann? Noch dazu bei der Wandergruppe, die ja auch nicht in der Kirche sitzt, sondern den freien Tag nutzt, um Wandern zu gehen. Und die Wandergruppe ist ja recht prominent besetzt. Es wandert sogar mein Professor mit, der schließlich auch Pfarrer ist und den Sonntag „eigentlich“ verstanden haben sollte. Und hierbei kommt mein Schelm so richtig zum Vorschein. Warum saß mein Professor nicht in der Kirche? Am Sonntagmorgen! Liegt nun ein Regelbruch vor? Und wenn ja, auf welcher Seite eigentlich?

Regeln sind sinnvoll. Das wissen nicht nur junge Eltern, die versuchen, mit ihren Kindern zurecht zu kommen. Regeln geben Sicherheit, Verlässlichkeit und bieten Orientierung. Regeln setzen Maßstäbe, ohne die das Zusammenleben nicht funktionieren würde. Ohne Regeln gäbe es keine Kommunikation. Sprach- und Verhaltensregeln, logische Normen ermöglichen überhaupt erst widerspruchsfreies Reden und Argumentieren. Technische Regeln sind dafür ein gutes Beispiel, und wir leben sehr gut damit: Wir fahren Auto, sitzen in Häusern und schalten abends das Licht an.

Warum aber haben es dann Regeln so schwer? Ist ein geregeltes Leben nicht ein gutes Leben?

In der Wirkungsgeschichte unseres Bibeltextes wurden „Regeln“ dann auch sehr oft problematisiert. Jesus wurde zum antibürokratischen Helden: „Der Mensch steht im Mittelpunkt und nicht tote Vorschriften, tote Regeln.“ Und es stimmt ja auch. Die Regelwut der deutschen Bürokratie wird nicht nur im Ausland milde belächelt.

Spannenderweise wird das Verhalten der Jünger von Jesus jedoch nicht verharmlost. Mit keinem Wort wird die Aktion der Jünger am Sabbat von Jesus verteidigt. Und ein Blick in die rabbinische Literatur lässt aufhorchen. Auch den sogenannten Pharisäern war es erlaubt, bei Hunger am Sabbat zu Essen, also Ähren auszuraufen. Die Ausnahme von der beliebten Regel war also allgemein anerkannt. Dass die Not kein Gebot kennt, war auch im antiken Judentum eine anerkannte Regel. Also kein Regelbuch! Aber warum dann der Ärger? Der Streit? Die Fragen?

Warum haben Regeln es so schwer? Ist ein geregeltes Leben nicht ein gutes Leben?

Ja und nein, denn es ist erst einmal nur eines: Leben. Und das Leben ist einfach da. Und das Leben vollzieht sich zunächst völlig regelfrei. Das Wichtigste im Leben ist nicht geregelt. Im Leben werden wir zunächst nicht gefragt. Ungeregelt werden wir geboren, (meist) ungefragt müssen wir sterben. Unser Leben vollzieht sich in einer bestimmten Zeit, wir leben in Abhängigkeit von bestimmten Mitmenschen, wie Eltern und Geschwistern. Sprache, Geschlecht, Gesundheit werden gesetzt - völlig regelfrei.

Regeln sind dann ein gutes Mittel, um diese regelfreie Welt in den Griff zu bekommen. Das regellose Leben soll menschliches Leben werden, zumindest ein Stück weit. Und der Mensch ist recht erfinderisch: Höhere Ziele rechtfertigen die Regeln und Verhaltensweisen.

Unter der Hand können sie jedoch schnell grausam werden. Denn auch Regeln haben Grenzen: Nicht der einzelne Mensch wird abgebildet, sondern der Mensch als Gruppe. Nicht die konkrete Situation, die Not, die Frage wird human gemeistert, sondern im Blick auf das Ganze wird der Einzelne schnell geopfert.

Dann werden Regeln zur Last, selbst dann, wenn diese doch „gut gemeint“ sind. Regeln machen dann blind für das, was dem Wohl des Menschen dient: Der Sabbat wird zur Last statt zur Hilfe.

Wie anders die Jünger. Sie fühlen sich völlig frei. Ganz kindlich raufen sie Ähren, denn sie haben Hunger und wollen nebenbei etwas sammeln. Sie fühlen sich geborgen. Sie wissen sich auch im Regelbruch, im eigenen Scheitern und Irren, im Heil Gottes geborgen. Das ist ihre Voraussetzung: In und aus der Freiheit des Glaubens heraus können sie ohne Rücksicht auf wichtige Regeln, unveränderliche Ziele und Normen, ohne Angst vor Irrtum und Scheitern nach dem jeweils dem Wohl des Menschen Dienlichen fragen und entsprechend handeln. Sie wissen sich in Gott geborgen, wissen, dass der Mensch letztlich nur scheitern kann. Wir können nicht alles regeln. Die Jünger haben erfahren, dass der Mensch gottesbedürftig ist. Gottesbedürftig, weil sie gespürt haben, dass sie mit ihren Regeln an Grenzen stoßen. Grenzen, die letztlich nur Gott allein einreißen kann.

Denn: So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. Der Menschensohn und nicht der Mensch.

P Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

G Amen.

Verwandte und zitierte Literatur:

Elert, Werner: Der Christliche Glaube. Grundlinien der Lutherischen Dogmatik, Hamburg 41956.

Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann: Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2011.

Honecker, Martin: Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe, Berlin 1990.

Kunz, Ralph: 20. Sonntag nach Trinitatis – 21.10.2007. Markus 2, 23–28, in: Göttinger Predigtmeditationen 61 (2007), 427-432.

Müller, Hans Martin: 20. Sonntag nach Trinitatis – Mk 2,23-28, in: Calwer Predigthilfen. Neue Folge. Reihe V/2, Stuttgart 1995, 192-199.

Schmidthals, Walter: Das Evangelium nach Markus. Kapitel 9,2-16 (ÖTKNT 2/2), Gütersloh 1979.

Mehr lesen aus dem Magazin zum Thema Spiritualität

Diesen Artikel teilen

Haben Sie Fragen? Wir helfen Ihnen gerne.

Wenn Sie sich näher über unser Angebot informieren möchten, können Sie gerne Ihre
bevorzugte Kontaktmöglichkeit hinterlassen.

Oder rufen Sie uns an unter unserer Service-Nummer:

+49 180 2823456 (6 Cent pro Gespräch)