Predigt vom 8. Sonntag nach Trinitatis, 2. August 2020

Predigt zu Johannes 9, 1-7; 8. Sonntag nach Trinitatis, 2. August 2020, 9.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Pfarrerin Karin Lefèvre

Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.

Liebe Gemeinde,

blind vor Wut – oder vor Liebe? Blind aufgrund von Vorurteilen? Oder gar betriebsblind? Irgendwie scheint fast alles die Fähigkeit zu besitzen, uns erblinden zu lassen. Ob Jesus deshalb so viele Blinde geheilt hat? Ob die Heilungen ihm deshalb auch regelmäßig ziemlich viel Ärger eingebracht haben?

Hören wir, was im Johannes-Evangelium im 9. Kapitel dazu steht:

1 Im Vorübergehen sah Jesus einen Menschen, der von Geburt an blind war. 2 Und seine Jünger fragten ihn: „Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren worden ist?“ 3 Jesus antwortete: „Weder hat dieser gesündigt noch seine Eltern. Sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. 4 Wir müssen die Werke dessen, der mich gesandt hat, wirken, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“ 6 Als er dies gesagt hatte, spie er auf die Erde und machte einen Teig aus dem Speichel und legte ihm den Teig auf die Augen. 7 Und sprach zu ihm: „Geh hin, wasche dich im Teich Siloah! (Das heißt übersetzt: Gesandter.) Da ging er hin und wusch sich und ging sehend weg.

Was für ein Unterschied: Wir sehen so oft den Wald vor lauter Bäumen nicht, wir sind blind für so vieles, was direkt (an Not) vor unseren Augen liegt – und Jesus sieht sogar im Vorübergehen, was viele andere gar nicht sehen und wahrnehmen wollen.

Blinde und andere Menschen mit Behinderung sind zu Jesu Zeiten gerne übersehen worden. Vor allem von den „Frommen“, also denen, die sich in den Heiligen Schriften auskannten, denen, die sich den Zugang zum Tempel erhalten wollten, also zu dem Ort, an dem Gott wohnte und wo man nur sein durfte, wenn man sich von all den Kranken fernhielt.

Und genau da wird es für uns – hier und heute – ganz aktuell. Denn wir sind ja auch zu diesem Gottesdienst zusammengekommen, weil wir Gottes Nähe suchen. So stellt sich auch für uns die Frage, wo unsere „blinden Flecken“ sind und woran wir achtlos oder sogar absichtlich vorübergehen.

Woran orientieren wir uns? – Manchmal beneide ich Jesu Jüngerinnen und Jünger. Wie sie würde ich gerne Jesus meine Fragen stellen können! Was mich tröstet, ist, dass sie offenbar keinen so großen Vorteil davon hatten, direkt und unmittelbar mit Jesus reden zu können. Warum sonst wird so oft betont, dass sie nicht verstanden, was Jesus ihnen sagen wollte!

Doch gehen wir noch einmal zu unserem Wort aus Johannes 9 zurück, wo Jesus im Vorübergehen den Blinden wahrnimmt, der am Rand sitzt oder steht. Und der auch von sich aus nichts tut: Weder ruft er (wie zum Beispiel der blinde Bartimäus in Markus 10), noch macht er sich sonst wie bemerkbar. Wahrscheinlich bekommt er aufgrund seiner Behinderung nicht einmal mit, wer da gerade an ihm vorbeiläuft. Und auch von (s)einem Glauben ist da (noch) keine Rede. Noch lange nicht. Der Weg dahin ist weit und mit vielen Schwierigkeiten, Vorwürfen und Vorurteilen gepflastert. So nehmen die Jünger an, dass die Blindheit ihre Ursache in Sünde haben muss: „Rabbi, wer hat gesündigt? – Dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“

Bilden wir uns bloß nicht ein, dass diese Lektion für uns schon lange überwunden und bewältigt ist! Wie oft habe ich bei Besuchen schwerst erkrankter Menschen gehört: „Frau Pfarrer, das habe ich nicht verdient! Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Warum fügt Gott mir das zu?!“ Oft kam dann noch: „Ich bin wirklich nicht schlechter als andere!“ Oder. „Ich bin wirklich kein schlechter Mensch!“

Für Jesus spielt das alles keine Rolle. Dieser Blick nach hinten, er interessiert ihn nicht. Jesus schaut nicht in die Vergangenheit und die dort liegende Schuld und Versagen, sondern er ist im Hier und Jetzt auf dem Weg in eine gute Zukunft.

Die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. Wir müssen die Werke dessen, der mich gesandt hat, wirken, solange es Tag ist.

Die alte Sichtweise, die alles und immer bei Schuld und Sünde ansetzt, sie macht buchstäblich blind. Blind für das Wirken Gottes. Und das ist ein unglaublicher Satz: Wir müssen wirken, solange es Tag ist. – Warum sagt Jesus da nicht. „Ich muss wirken?“ - Sagt Jesus wirklich „WIR“?

Ganz ehrlich: Im fünften und im zehnten Jahrhundert haben einige versucht, das zu korrigieren. Sie haben aus dem WIR ein ICH gemacht, als sie die Evangelien abgeschrieben haben. In wissenschaftlichen Ausgaben des Neuen Testaments können Sie das nachlesen.

Wie schön wäre das, wenn diese Korrektoren recht hätten! Dann wären wir alle fein raus. Dann könnten wir uns beruhigt zurücklehnen und zuschauen, wie Jesus handelt. Doch der christliche Glaube ist kein Zuschauer-Sport. Johannes hat sein Evangelium nicht geschrieben, damit wir Jesus bewundern, sondern damit wir ihm nachfolgen.

Darum ist das „WIR“ Jesus so wichtig. Es verhindert, dass wir uns zurückziehen, um das Leiden um uns herum nicht wahrnehmen und sehen zu müssen.

Schon bald, nachdem einige versucht hatten, aus dem „WIR“, in das Jesus uns einbezieht, ein „ICH“ zu machen, das uns von unserer Plicht zur aktiven, sehenden Nachfolge entbindet, erstarkte eine Bewegung, die die „imitatio Christi“ ins Zentrum stellte und Menschen aufforderte, sich innerlich so mit Jesus zu verbinden, dass sie lernte, zu sehen, wie Jesus gesehen hat, zu fühlen, wie Jesus gefühlt hat und zu lieben, wie Jesus geliebt hat. Franz von Assisi ist uns dafür bis heute im Gedächtnis.

Im Internet ist zu dieser Thematik unter einem anderen Blickwinkel auch die Kurzandacht eines bekannten Stuttgarter Rabbiners, Joel Berger, zu finden, der einen Satz aus dem 5. Mose 13 aufnimmt: Dem Herrn, eurem Gott, sollt ihr nachwandeln. Dazu zitiert er den Midrasch, eine jüdische Auslegung, in der hervorgehoben wird, dass wir alle bestrebt sein sollen, die Eigenschaften und die Handlungsweise Gottes nachzuahmen, indem wir für unsere Mitmenschen da sind und uns vor allem der Kranken annehmen. Dies könne Wunder wirken!

Wir müssen die Werke dessen, der mich gesandt hat, wirken, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.

Und dann zeigt Jesus seinen Jüngern und uns, was es heißt, Licht ins Dunkel zu bringen, indem er die Dunkelheit des Blinden erleuchtet.

Es klingt ja alles erst einmal ziemlich befremdlich, wenn nicht sogar peinlich, was Jesus da macht: Er vermischt seine Spucke mit der Erde und streicht dann diesen Brei auf die Augen des Blinden, als wäre es Heilschlamm.

Damit haben wir nicht nur im 21. Jahrhundert ein Problem. Das war schon damals eine Herausforderung. Denn das Anrühren von Brei war am Sabbath verboten! Jesus verstößt damit eindeutig gegen das religiöse Gesetz! Und so jemand rief zur Nachfolge auf!

Ja, Jesus tut dies, indem er an die Schöpfung und besonders an die Erschaffung des Menschen erinnert: Aus trockener Erde wurde der Mensch geformt, dem Gott den Odem des Lebens eingehaucht hat (1. Mose 2,6f). Diesen Menschen setzte er in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und bewahre (V. 15).

Indem Jesus etwas von sich mit Erde verbindet und es dem Blinden auf die Augen streicht, nimmt er Teil am Schöpferwillen Gottes. Der Blinde erhält neues Leben. Das Leben eines nun Sehenden, also eines Menschen, der Gottes Liebe sieht - in sich und seinem eigenen Leben ebenso wie in den Leben seiner Mitmenschen. Dies ist verbunden mit einer neuen Sichtweise, die nicht auf die Schuld und Mängel in der Vergangenheit schaut, sondern auf die Liebe und Güte Gottes.

Wir werden in dieses Werk der Güte und der Liebe, die auch noch im Vorbeigehen die Not des anderen sieht, mit einbezogen! Wir müssen die Werke dessen, der Jesus gesandt hat, wirken, solange es Tag ist.

Und wir sollten es mit derselben Zärtlichkeit tun, mit der Jesus den Blinden berührt. Wir sollten es tun, auch wenn einige mit einleuchtenden Begründungen dafür kommen, warum es falsch ist und warum wir nicht im Vorübergehen auf jede Not achten und sie lindern können.

Jemandem über die Augen streichen, etwas Feineres und Empfindsameres gibt es kaum. Eine solche Empfindsamkeit traut Jesus uns zu, damit die Werke Gottes offenbar werden.

Amen 

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