Predigt vom Sonntag, 31.03.2019
Fastenpredigt zu 5. Mose 5, 20; Thema: „Kann es eine christlich geprägte Politik geben?“; Sonntag Lätare, 31.03.2019, 9.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser, Präsident WLH und Lehrstuhlbeauftragter
Verehrte Glaubensgemeinde,
im 5. Buch Mose, Kapitel 5, in dem die Zehn Gebote wiederholt werden, lesen wir in Zeile 20: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“. Diese Weisung gilt protestantischen wie katholischen Christen als das achte Gebot, das Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus mit den Worten präzisiert hat: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“
Wenn wir die Zeitung aufschlagen, die Nachrichten im Radio und Fernsehen verfolgen oder Neuigkeiten im Internet recherchieren, dann fühlen wir uns bei politischen Meldungen – vorsichtig ausgedrückt – nicht immer an ein Milieu erinnert, in dem die Beteiligten ehrlich zueinander sind, gut übereinander reden, sich gegenseitig Fehler verzeihen und alles „zum Besten kehren“.
In der Politik geht es um Ideen, Interessen und Überzeugungen, gleichzeitig aber auch um Mittel, Instrumente und Strategien, um sich gegenüber politischen Wettbewerbern und deren Vorstellungen und Zielen durchzusetzen.
Es geht also zumindest auch um Konkurrenz, Konfrontation und Macht, und diese Kategorien scheinen fast zwangsläufig mit einem Gebot zu kollidieren, das dazu auffordert, ehrlich zu sein, gut übereinander zu reden und „alles zum Besten“ zu kehren.
Kann es vor diesem Hintergrund überhaupt eine christlich geprägte Politik geben?
Man könnte es sich nun leichtmachen und auf diese Frage pauschal antworten: Ja, und es kann sie nicht nur geben, sondern es gibt sie, wie die Existenz der C-Parteien (CDU und CSU) beweist.
So einfach möchte ich es mir aber nicht machen, und so einfach darf ich es mir auch nicht machen. Das zeigt schon die Tatsache, dass mit Blick auf die Frage, wie die großen gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart bewerkstelligt und geregelt werden sollen, zum Teil sogar erhebliche Differenzen zwischen den C-Parteien und den christlichen Kirchen bestehen. Denken Sie bitte an die Globalisierung, die Digitalisierung der gesamten Gesellschaft, den demographischen Wandel, die Kriege und Krisen in der Welt, denken Sie an Migration, Integration und viele andere Entwicklungen, die durchaus kontrovers diskutiert werden.
Der frühere Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Johannes Friedrich, hat bereits im Jahre 2007 in einem Buchbeitrag darauf hingewiesen, dass auch christliche Parteien im politischen System Spannungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen ausgesetzt sind, etwa zwischen „Begehrlichkeiten von Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung“ einerseits, ethischen Erwägungen des Schutzes von Leben und Menschenwürde andererseits; oder den „Notwendigkeiten zur Reform des Sozialstaates, des Arbeitsmarkts und des Steuersystems einerseits“ und der „Notwendigkeit des Erhalts einer Kultur der Solidarität andererseits“.
Hier kann es durchaus auch zu unterschiedlichen Akzenten und Prioritäten zwischen C-Parteien und christlichen Kirchen kommen, und die Liste derartiger Spannungsfelder ließe sich durchaus noch verlängern.
Das bedeutet, dass die Frage nach einer christlich geprägten Politik differenzierter und zwar sowohl vom christlichen Glauben als auch von der Politik aus untersucht werden muss. Im Grunde genommen geht es um zwei Fragen. Erstens: Was sind die Elemente einer christlichen politischen Ethik? Und zweitens: Wie lassen sich diese Elemente in konkrete politische Entscheidungen und Handlungen umsetzen?
Das ist nicht einfach, und die erste Schwierigkeit taucht schon damit auf, dass, wie der langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, eingewandt hat, das Evangelium „kein Parteiprogramm“ ist und der christliche Glaube „oft keine einfachen Ableitungen für konkrete Entscheidungen“ erlaubt.
So berechtigt dieser Einwand ist und so kontrovers die Frage diskutiert wird, wie aus christlichem Glauben heraus Politik zu gestalten sei, so unstrittig ist in Kreisen christlicher Politiker die Überzeugung, dass sich sowohl in der Evangelischen Sozialethik als auch in der Katholischen Soziallehre wichtige Ansatzpunkte hierzu fänden.
Das Fundament und gleichzeitig den Kern einer politischen Ethik, die dann als „ethischer Kompass“ (Zollitsch) für konkretes politisches, am christlichen Glauben orientiertes Entscheidungshandeln dienen könne, bilde das christliche Menschenbild.
Das bedeutet also, eine „christlich geprägte“ Politik orientiert sich in erster Linie am christlichen Menschenbild. Eine christlich geprägte Politik orientiert sich an den Begriffen Würde, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidiarität. Mit diesem Leitbild sind Normen und Werte verbunden, die es zu beachten gilt, ohne dass gleichzeitig die Politik als Moral setzende Instanz selbst überfordert würde.
Der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, der CDU-Politiker und bekennende Christ Armin Laschet, erklärte in einer Rede über das „C“ in der Politik Folgendes: Eine christlich orientierte Politik „fordert von den Politikern nicht, die Menschen moralisch zu verbessern, sondern ihnen ein praktikables, rational begründetes und ethisch vertretbares politisches Lösungsangebot zu unterbreiten.“
Eine politische Ethik, orientiert an Leitgedanken des christlichen Menschenbildes, kann und soll die Grundlage einer christlich geprägten Politik sein oder einer, wie es der frühere Bayerische Kultusminister Hans Zehetmair ausdrückte, „Politik aus christlicher Verantwortung“. Damit ist allerdings die Frage noch nicht vollständig beantwortet, ob die Forderung des achten Gebotes („Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“) im Feld der Politik durch eine christliche Prägung konsequent umgesetzt werden kann.
Sie wissen, dass die diesjährige Fastenaktion der Evangelischen Kirche unter dem Motto „Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen“ zur gemeinsamen Wahrheitssuche und zum Lügenverzicht aufruft. Arnd Brummer, der Geschäftsführer der Aktion „Sieben Wochen ohne“, bezog sich in seinem Grußwort zu Beginn der Fastenaktion explizit auf dieses achte Gebot und erklärte: „Wir wollen gemeinsam danach suchen, was die Wahrheit eigentlich ist und wie wir sie erkennen“.
Während die Resonanz der Medien auf das Fastenmotto breit gestreut war und von wohlwollender und aufmunternder Begleitung bis zu süffisanten und zynischen Kommentaren reichte, monierten Wissenschaftler wie der Heidelberger Sozialpsychologe Professor Klaus Fiedler, ein temporärer Lügenverzicht sei schlichtweg „nicht umsetzbar“. Die Lüge erfülle „eine wichtige soziale Funktion“, und unsere Rolle in der Gesellschaft bringe es mit sich, „dass wir nicht immer die Wahrheit sagen dürfen“.
Über dieses pauschale Urteil lässt sich sicherlich heftig und kontrovers diskutieren, aber zumindest ist damit unbestreitbar die Frage verknüpft, ob es in der Politik nicht noch schwerer, falls überhaupt möglich ist, konsequent ehrlich und aufrichtig zu sein als in individuellen sozialen Bezügen, etwa in der Familie oder im Freundeskreis.
Politik ist ja schließlich ein Feld, das – ich hatte es eingangs bereits erwähnt – durch harte Auseinandersetzungen und Konkurrenz zwischen den verschiedenen Parteien gekennzeichnet ist, die die Wählerschaft von ihren jeweiligen Programmen zur Bewältigung politischer Herausforderungen überzeugen wollen.
Dieser Konkurrenzkampf, das wissen wir aus leidvoller Erfahrung, wird nicht immer mit Samthandschuhen geführt.
Und es wird auch nicht nur zwischen den Parteien heftig gerungen, sogar innerhalb der politischen Lager sind sich nicht alle Parteifreunde notwendigerweise immer grün und reden gut und aufrichtig übereinander. Sie kennen sicherlich die oft zitierte Steigerungsformel „Freund, Feind, Parteifreund“.
Kann also Politik grundsätzlich ehrlich und aufrichtig, mithin wahrhaftig im Sinne des achten Gebotes sein?
Ich glaube ja, allerdings mit drei Einschränkungen:
1. Die erste Einschränkung bezieht sich auf den Wahrheitsbegriff an sich. Auch die Organisatoren der diesjährigen Fastenaktion der Evangelischen Kirche haben darauf hingewiesen, dass ihr Aufruf zur Suche nach Wahrheit als Annäherung an diese zu verstehen sei. Der protestantische Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich hat uns in seinen Schriften immer wieder darauf hingewiesen, dass die absolute Wahrheit Gott allein ist. Wir können nur versuchen, ihr so nahe wie möglich zu kommen.
2. Die zweite Einschränkung bezieht sich auf das bereits in der ersten Predigt dieser Reihe vom Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten angesprochene Phänomen, dass menschliches Handeln nicht auf objektiven Erkenntnissen, sondern auf subjektiven Interpretationen der Realität basiert. Wir messen allem, was wir sehen, hören, fühlen, tasten, riechen, eine Bedeutung bei, ordnen es ein in unser bereits vorhandenes Wissen und bewerten es im Sinne unserer Interessen. Aus diesen subjektiven Bewertungsprozessen entstehen neue Entscheidungen und Handlungen.
Dieses Phänomen subjektiver Bewusstseinsbildung spielt im politischen Feld insofern eine herausgehobene Rolle, weil es die wichtigste verhaltenssteuernde Kraft darstellt, die politisches Entscheidungshandeln auslöst und bestimmt.
3. Die dritte Einschränkung bezieht sich auf das Wesen der Politik an sich. Bundeskanzler Konrad Adenauer, selbst ein tief gläubiger katholischer Christ, erklärte in einer Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Dezember 1959, dass er drei Steigerungen der Wahrheit unterscheide: Die einfache Wahrheit, die reine Wahrheit und die lautere Wahrheit. Und er fuhr fort: „Ich verspreche Ihnen, die reine Wahrheit zu sagen.“
Seine Fraktionskollegen wird Adenauer mit dieser Aussage möglicherweise eher verwirrt haben, uns liefert seine Bemerkung aber wertvolle Hinweise auf die Spielregeln politischer Auseinandersetzung, in denen Taktik und Raffinesse eine wichtige Rolle spielen.
Politik unterscheidet sich – und das ist im Kontext unserer Leitfrage von wesentlicher Bedeutung – Politik unterscheidet sich von individueller menschlicher Lebensgestaltung auch dadurch, dass die Entscheidungen politischer Funktions- und Mandatsträger Konsequenzen für Tausende oder gar Millionen von Menschen haben können. Das bedeutet, dass – um Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zu bemühen – Politiker sich nicht allein an abstrakten ethischen Normen und Werten orientieren dürfen, sondern sie müssen als Verantwortungsträger die Konsequenzen ihres Handelns für viele Menschen bedenken und deshalb verantwortungsethisch handeln.
Diese Notwendigkeit führt mitunter zu einem Wertekonflikt, wenn Politiker sich etwa genötigt sehen, ethisch bedenkliche Maßnahmen zu ergreifen, um ein Ziel zu erreichen, das gemäß ihrer Werteordnung noch wichtiger ist, noch höher steht.
Es ist durchaus auch denkbar, dass werteorientierte Politiker im Wettbewerb mit anderen Kräften, die gefährliche Ziele verfolgen und unlautere Mittel verwenden, sich gezwungen sehen, ebenfalls zu Maßnahmen zu greifen, auf die sie im ehrbaren, offenen und respektvollen Wettbewerb lieber verzichten würden.
Ich denke im Kontext derartiger unlauterer politischer Gegner insbesondere an populistische Kräfte, zumal deren Strategie ja auch im übergeordneten Thema der Fastenpredigtreihe explizit erwähnt wird: „Demokratische Streitkultur: Ehrlichkeit versus Populismus – Was ist Wahrheit?“
Populisten unterschiedlicher politischer Couleur eint sowohl ihre irreführende Behauptung, einfache Antworten auf schwierige gesellschaftliche Fragen geben zu können, als auch ihre ebenso irreführende Reduzierung von Zusammenhängen vielschichtiger gesellschaftlicher Entwicklungen auf einen einzigen Verursacher, den sie damit zum alleinigen Sündenbock stempeln.
Adressaten derartiger pauschaler Schuldzuweisungen populistischer Bewegungen waren in jüngerer Zeit u.a. „die Medien“, „die Flüchtlinge“, „die Globalisierung“ oder „die Europäische Union“. Derartig grobe Verzerrungen der Realität, gesteuert vom Willen politischen Machtgewinns, stellen die etablierten staatstragenden Parteien der demokratischen Mitte vor erhebliche Schwierigkeiten, weil sie Polarisierungen Vorschub leisten und bereits vorhandene gesellschaftliche Spannungen befeuern.
Populismus steht durch seine interessen- und machtgesteuerte Zerr-Konstruktion sozialer Realität nicht nur in Widerspruch zum christlichen Gebot der Wahrhaftigkeit, sondern er gefährdet darüber hinaus geradezu eine an christlichen Werten orientierte Politik. Dies geschieht dann, wenn im politischen Wettbewerb der Ideen und Programme die unlauteren populistischen Kräfte und Gruppen mit ihren verlockenden Losungen Erfolg haben. Eine an christlichen Werten orientierte Politik gerät dort in Gefahr, wo die wertebewussten politischen Verantwortungs- und Entscheidungsträger begründete Sorge haben müssen, dass das bekannte Sprichwort „Ehrlich währt am längsten“ tatsächlich auch im politischen Geschäft nach wie vor seine Gültigkeit hat.
Gegenwärtig sehen wir tatsächlich in verschiedenen Staaten der Europäischen Union, dass unter dem Eindruck mannigfaltiger Probleme und Krisen die Parolen populistischer Kräfte auf fruchtbaren Boden fallen, wodurch ernsthafte Herausforderungen für eine an christlichen Werten orientierte Politik entstehen.
Diese Herausforderungen können wir vielleicht im anschließenden Predigt-Nachgespräch noch vertiefen.
Als Fazit möchte ich festhalten: Die Frage, ob es eine christlich geprägte Politik geben kann, muss mit ja beantwortet werden.
Grundlage einer christlich geprägten Politik ist eine politische Ethik, als deren Fundament das christliche Menschenbild dient. Dieses Menschenbild betont die Würde jedes Menschen unabhängig von seinen Eigenschaften und Leistungen. Dieses Menschenbild nötigt uns und fordert uns, die Würde jedes Menschen zu achten. Auf diesem jüdisch-christlichen Menschenbild basieren die Menschenrechte: persönliche Freiheitsrechte, soziale Grundrechte und politische und gesellschaftliche Mitwirkungsrechte.
Eine christlich geprägte Politik orientiert sich zum einen an dieser auf dem christlichen Menschenbild fußenden politischen Ethik, zum anderen hat eine christlich geprägte Politik im Sinne verantwortungsethischen Wirkens die Konsequenzen ihrer Entscheidungen für die Bürgerinnen und Bürger vorab zu kalkulieren und entsprechend zu berücksichtigen.
Politisches Handeln, das darf im Kontext des achten Gebotes nicht außer Acht gelassen werden, unterliegt gewissen Spielregeln und Besonderheiten, die ein konsequent an christlichen Werten orientiertes Handeln mitunter nur mit bestimmten Einschränkungen möglich machen. In diesem Zusammenhang erfährt die christliche Orientierung im Lichte der Notwendigkeit eines verantwortungsethischen Handelns aber sogar einen erheblichen Bedeutungszuwachs. Der frühere Bayerische Kultusminister Hans Maier hat dies treffend formuliert: Das Christentum hat die Politik „rechenschaftspflichtig gemacht“ „vor Gott und den Menschen“.
Das Christentum hat Politik „rechenschaftspflichtig gemacht“ „vor Gott und den Menschen“.