Teilhabe am Arbeitsleben ist ein Menschenrecht
Morgens in die Arbeit gehen, mit den Kollegen ratschen, über einer schwierigen Aufgabe grübeln, sich auf den Feierabend freuen – all diese Dinge sind für die meisten Menschen ein selbstverständlicher Teil ihres Arbeits-Alltags.
Für Menschen mit Behinderung ist eine regelmäßige Arbeit aus den gleichen Gründen wichtig wie für Menschen ohne Handicap: Sie spendet Orientierung und Halt, strukturiert den Tagesablauf, fördert die persönliche Weiterentwicklung und das Selbstbewusstsein.
Maria Mohr hat sich mit Barbara Günther über das Thema "Arbeiten für Menschen mit Behinderung" unterhalten. Barbara Günther ist bei Diakoneo Expertin für den Bereich Arbeit und Tagesstruktur für Menschen mit Behinderung.
(Grafik: Oleksandra Freydenzon)
Darum geht es in dem Artikel:
- Warum ist für Menschen mit Behinderung die Teilhabe am Arbeitsleben wichtig?
- Definitionen: WfbM, Förderstätte
- Wie sieht der Weg nach der Förderschule aus?
- Für wen ist die Werkstatt der geeignete Ort?
- Definition "wirtschaftlich verwertbare Arbeit"
- Für wen ist die Förderstätte der geeignete Ort?
- Arbeiten auf einem Außenarbeitsplatz oder am ersten Arbeitsmarkt
- Wie findet man den geeigneten Arbeitsplatz für einen Beschäftigten?
- Warum ist Arbeiten und Lernen für Menschen mit schweren Behinderungen wichtig?
- Wo liegt die Zukunft der Werkstätten?
Warum ist für Menschen mit Behinderung die Teilhabe am Arbeitsleben wichtig?
Eine regelmäßige Arbeit ist für Menschen mit Behinderung wichtig, weil sie für alle Menschen wichtig ist. Eine regelmäßige Tagesstruktur schafft Orientierung und Sicherheit. Barbara Günther betont. „Es geht darum, sich selbst als wirksam zu erleben. Das ist für jeden wichtig, der arbeitet.“
Es geht darum, sich selbst als wirksam zu erleben.
Durch die Arbeit erleben die Menschen noch einmal ein anderes Umfeld als im Wohnbereich und knüpfen weitere wichtige Sozialkontakte. Menschen mit Behinderung werden so besser in die Gesellschaft integriert. Das verbessert ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität.
Eine Arbeit kann dazu beitragen, dass Menschen mit Handicap eine sinnvolle Aufgabe haben und ihre Fähigkeiten und Talente einsetzen können. Durch eine Arbeit können Menschen mit Behinderung ihr Selbstbewusstsein und ihr Selbstwertgefühl stärken, was sich positiv auf das persönliche Leben und den Alltag auswirkt.
Wie sieht der Weg nach der Förderschule aus?

Nach Abschluss einer Förderschule für Menschen mit geistiger Behinderung gibt es mehrere Möglichkeiten:
- Eingangsverfahren im Berufsbildungsbereich in der Werkstatt: Im Berufsbildungsbereich einer WfbM wird zunächst geklärt, ob die Arbeit in einer Werkstatt in Frage kommt. Nach erfolgreicher Absolvierung des Berufsbildungsbereiches erfolgt der Wechsel in den Arbeitsbereich der Werkstatt
- Start in der Förderstätte: In manchen Fälle steht am Ende der Förderschule die Entscheidung für den Wechsel in die Förderstätte.
Für wen ist die Werkstatt der geeignete Ort?
Wer ein „Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit“ leisten kann, der kann in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeiten.
Was dieses Mindestmaß genau umfasst, ist nicht definiert. Die genaue Definition ist seit Jahren umstritten und wird sehr unterschiedlich ausgelegt.
Barbara Günther erläutert: „Wenn jemand mit Handführung in der Lage ist, eine Schraube in eine Aufhängevorrichtung zu schieben, dann hat er ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit geleistet.“
Letzten Endes geht es nach Meinung der Expertin immer darum: „Mit welcher Unterstützung kann jemand welche Arbeit verrichten?“
Manche Beschäftigte könnten mit einer 1:1-Begleitung wirtschaftlich verwertbare Arbeit leisten. Das heißt ein Mitarbeiter ist für einen Beschäftigten da.
Für wen ist die Förderstätte der geeignete Ort?
Das kommt in erster Linie auf den einzelnen Menschen und auf das Maß der möglichen Unterstützung an. Einige Beschäftigte könnten mit dem richtigen Maß an Unterstützung oder einem noch spezieller auf sie zugeschnittenen Arbeitsumfeld in einer WfbM arbeiten.
Ohne diese Bedingungen ist die Förderstätte besser für sie geeignet.
Die Schwierigkeit besteht laut Barbara Günther oft darin, dass es auf Grund der personellen und finanziellen Verhältnisse oft überhaupt nicht möglich ist, herauszufinden, für wen der Wechsel in die WfbM möglich wäre.
Darüber hinaus gibt es natürlich auch Menschen, für die auf Grund ihrer Behinderung eine WfbM nicht der richtige Ort wäre.

Arbeiten auf einem Außenarbeitsplatz oder am ersten Arbeitsmarkt
Auch hier ist es bei Beschäftigten in einer WfbM ähnlich wie bei arbeitenden Menschen ohne Behinderung: Die Persönlichkeiten und damit die Vorlieben sind sehr unterschiedlich.
Während sich der eine Beschäftigte innerhalb der WfbM in seiner vertrauten Gruppe und im vertrauten Umfeld wohl fühlt, möchten seine Kollegin lieber außerhalb der Werkstatt arbeiten.
Wichtig sei es hier, den Menschen nichts vorzuschreiben, sagt Barbara Günther. „Wir können nicht vom Normalisierungsprinzip sprechen und dann den Menschen vorschreiben, wo sie zu arbeiten haben.“
Es ist ein Ziel der Werkstätten, dass ihre Beschäftigten auf einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt oder auf einen Außerarbeitsplatz kommen können. In den Werkstätten arbeiten Integrationsbegleiter*innen, die Kontakt zu Firmen herstellen und sich in der Werkstatt mit den Gruppenleiter*innen austauschen, um zu erfahren, wer für ein Praktikum oder einen Außenarbeitsplatz in Frage kommt.
Außerdem gibt es ein Schulungskonzept, das Beschäftigte auf die Arbeit auf einem Außenarbeitsplatz vorbereitet.
Im Mittelpunkt steht bei diesem Prozess immer der Wille des Beschäftigten. Nicht jeder möchte auf einem Außenarbeitsplatz arbeiten. Es gibt auch Beschäftigte, die lieber innerhalb der WfbM arbeiten möchten.
Wie findet man den geeigneten Arbeitsplatz für einen Beschäftigten?
Die Wahl des richtigen Arbeitsplatzes ist immer eine längere Entwicklung. Oft ändern sich Wünsche ja auch, dann muss der Einsatzort wieder angepasst werden. Es ist ein laufender Prozess.
Es ist auch eine Stärke der Werkstätten und der Förderstätten, dass sie die Beschäftigten individuell begleiten können.
Warum ist Arbeiten und Lernen für Menschen mit schweren Behinderungen wichtig?

Rein rechtlich ist es so, dass Menschen in der Förderstätte ein Recht haben auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und nicht auf Teilhabe am Arbeitsleben.
Das Ziel der Förderstätten ist es aber durchaus, Menschen darauf vorzubereiten, den Übergang in die Werkstatt zu schaffen.
Barbara Günther betont:
Wir bieten Bildung und Arbeit.
Das ist wichtig und gehört zusammen: Bildung ist wichtig, um arbeiten zu können.
Die Förderstätten bieten Bildung und Arbeit auf einem Niveau an, dass an die Fähigkeiten der Menschen angepasst ist, die in den Förderstätten arbeiten. Ein Ziel ist, die Beschäftigten in den Förderstätten zu unterstützen, dass sie eine Möglichkeit haben, eventuell in die Werkstatt zu wechseln.
Für viele Menschen mit Behinderung sind die Förderstätten der ideale Ort, um ein zweites Lebensumfeld zu erleben.
Deshalb ist es den Expert*innen bei Diakoneo wichtig, das Thema Bildung und Arbeit mehr in die Förderstätte einzubringen. „Wir möchten den Menschen eine Chance der Entwicklung geben, die auch dokumentiert wird.“, betont Barbara Günther.
Denn es ist wichtig, die Weiterentwicklung der Menschen in der Förderstätte gut zu dokumentieren. So bekommen Angehörige und Betreuer*innen die Möglichkeit, die Entwicklung nachzuvollziehen.
Die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) der Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) in Bayern veröffentlichte 2019 ein neues Rahmenkonzept für die Teilhabeleistung „Bildung & Arbeit in Förderstätten“. Auch Diakoneo war an der Erstellung des Konzeptes beteiligt.
Ziel ist es, Ergänzungen zu bereits bestehenden und bewährten Konzepten der Förderstätten zu entwickeln und auf diese Weise das Lebenslange Lernen für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf zu fördern.
Wie die Rahmenkonzeption in der Förderstätte Obernzenn/ Rothenburg individuell umgesetzt wird, lesen Sie hier.

Gibt es auch Menschen, für die eine Förderstätte nicht in Frage kommt?
Dieser Fall ist für Barbara Günther die absolute Ausnahme. Eine massive Selbst- und Fremdgefährdung könnte unter Umständen ein Grund sein. „Aber auch auf diese Fälle sind die Förderstätten eingestellt“, sagt die Expertin. Auch ein hoher Grad an Pflegebedürftigkeit ist kein Ausschlusskriterium.
Auch wenn Menschen nicht verbal kommunizieren, ist das kein Problem. Wir haben eher selten Menschen in der Förderstätte, die mit Worten kommunizieren.“ Viele verständigen sich über Sprechhilfen wie Talker oder sprechenden Tasten.
Diakoneo versucht jedem Menschen mit Behinderung einen Platz und eine Entwicklungsmöglichkeit in den Förderstätten anzubieten
Wo liegt die Zukunft der Werkstätten?
Der Bereich der industriellen Fertigung in den Werkstätten ist nach wie vor ein sicherer und gut planbarer Arbeitsbereich. Allerdings bringt die Abhängigkeit von kleinen und großen Firmen auch immer Risiken mit sich.
Einsätze auf dem Dienstleistungssektor wie zum Beispiel Grünpflege bieten hier Vorteile.
In Zukunft wird es bei der Gestaltung der Arbeitsplätze in den Werkstätten noch mehr darum gehen, das Wunsch- und Wahlrecht der Beschäftigten in den Mittelpunkt zu stellen und sehr individuell Arbeitsplätze anzubieten.
Noch vor 20 Jahren war der klassische Weg, dass ein Mensch mit Behinderung zunächst einen Wohnplatz hatte und dann eben in der nächstgelegenen Werkstatt arbeitete und dort nur die Arbeitsplätze zur Auswahl hatte, die es eben gab
Heute sind zum einen die Arbeitsangebote in den Werkstätten differenzierter. Und zum anderen haben die Wünsche der Beschäftigten mehr Gewicht. „Wenn ein Beschäftigte gerne im Verkauf arbeiten möchte, dann suchen wir ein Praktikum auf einem Außenarbeitsplatz“, sagt Barbara Günther.