Fastenpredigt „Wer den Zweifel nicht kennt, den hat der Teufel schon im Sack“ von Rektor Frank Zelinsky von Sonntag Judika, 17. März 2024

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus!

Vor zwei Wochen hat Karl-Heinz Röhlin hier die Fastenpredigt gehalten, der auch einmal das Pastoralkolleg geleitet hat, diese älteste Fortbildungseinrichtung für Pfarrerinnen und Pfarrer – und auch er hat über den Zweifel gesprochen. Da könnte man ja hellhörig werden und sich fragen: „Was ist mit den Pfarrern los?“

 Aber der Zweifel ist ja unser aller Begleiter. Wir sprechen nur nicht oft darüber. Fast, als ob er etwas peinlich wäre. Dabei gehört er wie ein Bruder zu unserem Glauben dazu.

„Wer den Zweifel nicht kennt, den hat der Teufel schon im Sack“ – so drastisch hat es Luther gesagt. Der kannte den Zweifel gut. Und er hat ihn nicht verschwiegen – im Gegenteil: vor fünfhundert Jahren hat er „ein Lob auf die Anfechtung gesungen, hat sich gegen die Tyrannei des Gelingens gestemmt, hat ihnen allen einen Ort gegeben: dem gnadenlosen Weiterfragen, der Klage, dem Leiden, der Trauer, der Ohnmacht des Glaubens“, so schön hat es Athina Lexut formuliert, Kirchenhistorikerin in Gießen.

Martin Luther hat neben dem Gebet und der Vertiefung in die Heilige Schrift als drittes die Anfechtung als Merkmal der rechten Weise beschrieben, Theologie zu studieren, die Weise also, wie angemessen von Gott geredet werden kann. Denn die Anfechtung, so Luther, „ist der Prüfestein, die leret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfaren, wie recht, wie warhafftig, wie süsse, wie lieblich, wie mechtig, wie tröstlich Gottes wort sey, weisheit uber alle weisheit“…

Aber warum hat Luther den Zweifel so gewürdigt? Was soll gut sein am Zweifel? Den hätten wir gerne los. Denn was macht die Anfechtung mit uns? Sie erschüttert, was uns vertraut ist und Sicherheit gibt. Sie stellt in Frage, dass das alles Sinn macht, woran wir glauben und worin wir uns eingerichtet haben. Sie stellt uns selbst in Frage. Und sie stellt Gott in Frage.

Was soll daran gut sein? Das alles wollen wir nicht. Wir hätten gerne Sicherheit. Ich würde gerne spüren, dass das wahr ist: dass Gott die Liebe ist und er der Herr der Welt bleibt und keine Mächte und Gewalten und kein durchgeknallter Herrscher in Ost oder West, sondern seine grenzenlose Liebe.

Ich würde das gerne erleben, dass die Gewaltigen vom Thron gestoßen und die Niedrigen erhöht werden, dass die Hungrigen mit Gütern gefüllt werden und die Reichen leer ausgehen: das würde ich gerne erleben – aber die Welt sieht so anders aus.

Und ich möchte gerne glauben, dass das einmal so sein wird: dass Gott alle Tränen abwischen wird und der Tod nicht mehr sein wird noch Leid noch Geschrei noch Schmerz und alles neu wird: das möchte ich so gerne glauben – und sehe, wie müde ich geworden bin und wie ich mich versuche abzulenken, weil die Tränen, das Leid, das Geschrei und der Schmerz so überwältigend sind…

„Das Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen, denn der Wind stand ihm entgegen…“ die vierte Nachtwache, das sind die Stunden zwischen 3 und 6 Uhr. Das sind die Stunden, in denen die Müdigkeit bleiern ist, wenn der Schlaf nicht kommen mag. Das sind die Stunden, in denen die Schutzmechanismen nicht mehr funktionieren und die Angst wie ein Gespenst überwältigen kann.

Jesus, der auf dem Meer zu seinen Freunden geht, hat diese Mächte, dieses Meer von Tränen und Leid und Geschrei und Schmerz überwunden. Es ist die Erinnerung an den Auferstandenen, die hier erzählt wird. Der seine Freunde tröstet, als sie schreien vor Furcht: „Fürchtet euch nicht!“

Alle hören seine Stimme – Petrus will jetzt schon, mitten im Sturm, am Leben Christi teilhaben. Und Jesus sagt nur ein Wort: „Komm!“ Ja, es ist möglich, der Weg ist offen, wir können an der Auferstehung teilhaben mitten in einer Welt des Todes und des Vergehens! „Komm!“ – obwohl so Vieles, eigentlich alles dagegenspricht, obwohl das Stürmen nicht aufhört: „Komm!“

Und Petrus kommt. Und wird unser Bruder, als er den starken Wind sieht und der Schrecken ihn packt und er in Angst versinkt. Und es bleibt ein Schrei: „Herr, rette mich!“ Nichts, das er tun kann – aber sofort „streckte Jesus die Hand aus und ergriff ihn…“

Warum hat Luther die Anfechtung so gewürdigt? Weil sie – indem sie unsere vermeintliche Autonomie erschüttert und die Illusion entlarvt, wir hätten die Kontrolle – unsere Armut offenbart und unsere Bedürftigkeit.

Wer meint, unangefochten durch Krisenzeiten gehen zu können und immer Antworten und Erklärungen zu haben, mit allem allein klar zu kommen und sich nicht durch Zweifel in Frage stellen lässt – der hätte nach Luther nichts begriffen von dem, was den Menschen ausmacht. Und was Gott zu dem macht, der er für uns Menschen sein will: Retter und Erlöser. Wenn ich alles selbst machen und verstehen kann – wozu dann Christus? Wozu Gott?

Nach biblischem Verständnis ist es unsere Bedürftigkeit, die uns zu beseelten, lebendigen Menschen macht – und die sich in der Anfechtung, im Zweifel immer wieder in Erinnerung ruft. Christus fragt uns nicht: bist du sicher, dass du genügend Kraft und genügend Glauben hast, um dich mir anzuschließen? Er fragt etwas ganz anderes: Glaubst du, dass ich an deiner Seite bin? Auch, wenn dein Herz schweigt? Glaubst du an meine Treue, auch, wenn alles um dich und in dir mit einer anderen Stimme schreit?

Wir tragen diesen Schatz in zerbrechlichen Gefäßen. Und es kann schmerzvoll sein, daran erinnert zu werden. Einmal hat mich der Schmerz während Exerzitien fast überwältigt. Was, wenn das alles nicht wahr ist? Wenn sich hinter unserer Hoffnung nur eine große Leere auftut und wir im Nichts versinken?

Was, wenn ich mich nur deshalb an den Gedanken geklammert habe, dass da ein Gott ist, eine Liebe, die grenzenlos ist und mich meint, weil uns früh mein Vater verlassen hat und ich diese Wunde, diese Lücke irgendwie ausfüllen wollte?

Ich hatte ich mich selbst entlarvt und war mir auf die Spur gekommen – das schien mir mit einem Mal klar. Deshalb hatte ich so lange nichts gespürt von Gott! Deshalb ist er stumm geblieben, als ich stundenlang im Schweigen vor dem Tabernakel saß! Deshalb ist die Schwere geblieben! Weil alles vielleicht doch nur eine Illusion ist, die ich selbst mir gemacht habe, um mich hinwegzutrösten über die Einsamkeit…

Das war kein theoretischer Gedanke. Das war grenzenlose Traurigkeit. Mit der habe ich einen Tag im Wald verbracht. Am Ende dieses Tages war es ein Wort, das mir geschenkt wurde: bleiben. Mehr habe ich nicht gebraucht.

An Gott bleiben. Auch ohne zu verstehen. Auch, wenn das Herz schweigt. Auch, wenn so Vieles, eigentlich alles in mir und in dieser Welt gegen ihn sprechen mag. Auch, wenn ich ihn nicht verstehe und er wie ein Fremder scheint. Bleiben.

Im Johannes-Evangelium ist viel vom Bleiben die Rede. Und immer ist für Johannes das Bleiben die vielleicht schönste Sprache der Liebe. Fast zweitausend Jahre nach Johannes hat der Schriftsteller Max Frisch den Zusammenhang von Bleiben und Liebe so beschrieben:

„Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen.

Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden; weil wir sie lieben, solang wir sie lieben. Nur die Liebe erträgt ihn so…

Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedes Mal…“

Nicht fertig werden, im besten Sinne nicht fertig werden. Nicht mit den Menschen, mit denen wir verbunden sind. Nicht mit uns selbst. Und nicht mit Gott. Der Zweifel, die Anfechtung, halten die Liebe lebendig. Und bewahren sie davor, einzufrieren in Bildnissen, die wir uns von ihr machen. Nicht fertig werden – und bleiben.

In 12 Tagen Karfreitag und die Erinnerung an einen, der keine Antwort bekommen hat auf sein „Warum?“ – und der dennoch gestorben ist mit dem Bekenntnis „Mein Gott…“. Und in zwei Wochen feiern wir Ostern: Beginn eines Festes, das kein Ende haben wird.

Vielleicht ist der Glaube an Gott dort am wahrhaftigsten, wo er keine Sicherheit mehr hat, auf die ich mich selbst stützen kann: kein Gefühl. Keine Erfahrung. Kein Bild. Nichts mehr, das ich selber bieten könnte. Nichts als allein die Verheißung Gottes und das Wort Christi: „Sei getröstet, ich bin’s, fürchte dich nicht!“

Vielleicht hat Luther die Anfechtung deshalb so geschätzt, weil sie uns daran erinnert, dass wir vor Gott nichts haben, gar nichts – und auch nichts haben müssen und brauchen außer seinem Wort und seiner Treue.

 Weil sie uns an unsere Armut erinnert – und daran, dass wir uns ihrer nicht schämen müssen. Weil sie uns daran erinnert, dass das alles ist, was wir brauchen in den Stürmen der Gewalt und in einem Meer von Tränen: den Blick auf Christus zu richten, immer neu, jeden Augenblick neu.

Wie das gehen kann? Ein Kreuz in die Hand zeichnen, das mich daran erinnert: ich gehöre zu Christus, dem Auferstandenen. Worte aus den Psalmen leihen und mit ihnen beten, wenn mein Herz stumm bleibt: die Beter der Psalmen kannten alle Höhen und Tiefen eines Lebens mit und ohne Gott.

Die beste Medizin aber, die ich kenne: singen! Nicht warten, bis es uns gut geht und wir aus vollem Herzen einstimmen können – sondern singen, bis auch in uns die Freude wieder durchbricht. Das werden wir gleich wieder gemeinsam machen: singen!

Das ist ein zutiefst innerlicher Schritt. Und es ist eine zutiefst politische Haltung: in einer Zeit, in der nicht nur barbarische Gewalt die Freiheit bedroht, sondern hier bei uns laute Stimmen die Grundlagen unseres Zusammenlebens in Frage stellen, kann es auch eine Form des Widerstandes sein, den fertigen Meinungen und allzu selbstsicheren Urteilen und Parolen entgegenzutreten und ihnen nicht das Feld zu überlassen!

Keine Zweifel kennt nur die Ideologie – da darf nicht gezweifelt werden. Im Glauben aber bleiben wir eine Ansammlung menschlicher Schwächen – und eine Gemeinschaft fröhlicher Zweifler.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.