Abschiedspredigt von Pfarrer Norbert Heinritz am Sonntag Kantate, 28. April 2024, Offenbarung 15, 2-4; in St. Laurentius, Neuendettelsau
„Am Ende wird Singen sein“
Liebe Gemeinde,
lesen Sie Bücher? Vielleicht sogar Romane? Wie machen Sie das? Fangen Sie – wie ich – vorne an und lesen Satz für Satz und hören dann mit dem letzten Wort auf? Oder machen Sie es wie meine Frau: Sie liest oft zuerst das Ende. Sie möchte wissen, wie es ausgeht. Dann liest sie die vielen Seiten vorher freilich unter einer ganz anderen Perspektive. Sie kann dann auch viel schneller lesen als ich. Während ich ein Buch gelesen habe, hat meine Frau schon drei verschlungen.
Der amerikanische Schriftsteller John Grisham sagt zum Verfassen von Romanen: „Schreibe niemals die erste Szene, wenn du nicht die letzte Szene fertig hast.“ Das Ende sollte also feststehen, bevor man mit dem Schreiben beginnt. Auf das Ende kommt es an.
I.
Das Lied der Überwinder
2 Ich sah, wie sich ein gläsernes Meer mit Feuer vermengte, und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen 3 und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. 4 Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine Urteile sind offenbar geworden.
(Offenbarung 15, 2-4)
Vielleicht sollten wir ja – wie beim Schreiben eines Romans – unser Leben auch vom Ende her betrachten. Du weißt zwar noch nicht, was alles noch passieren wird. Es wird noch alles Mögliche kommen, Gefühle, Handlungen, Drama. Hohes und Tiefes, Glück und Unglück, Lachen und Weinen, aber das Ende steht schon fest. Das Wichtigste ist im Grunde immer das Ende, diese letzte Szene, worauf alles zuläuft.
Die Szene, die ich Ihnen gerade eben verlesen habe, steht auch ganz hinten in diesem dicken Buch, der Bibel. Sie steht in der Offenbarung. Dort wird erzählt, worauf alles zulaufen wird, dann, am Ende der Zeiten,
dann, wenn das Tier – gemeint ist das Böse – besiegt ist, dann, wenn der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz mehr sein wird. Dann am Ende wird Singen sein und Loben und Jubel und Glück. Am Ende geht es gut aus. So erzählt es uns Johannes von Patmos, der dieses geheimnisvolle, mysteriöse Buch geschrieben hat. Wie auch immer man all diese surrealistischen Bilder verstehen will, wie dieses vom gläsernen Meer mit Feuer vermengt, eines im Buch der Offenbarung ist ganz klar: Es wird gut ausgehen. Am Ende wird Singen sein, ein großer Jubel über die Größe und Heiligkeit Gottes. Großer Gott wir loben dich.
Ich glaube, wir betrachten unser Leben viel zu wenig von diesem Ende her. Vielleicht, weil wir die Bilder von dieser letzten Szene verloren haben, vom neuen Himmel und von der neuen Erde, von einem Gott ganz nah bei uns und von den Geretteten, die singen, loben und jubeln. Verloren im Dickicht unserer säkularen Vernunft. Schade ist das.
Ich glaube, wir sollten die Dinge mehr vom Ende, von diesem wunderbaren Ende her betrachten. Am Ende werden wir singen und jubeln: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker.
Vom Ende her gesehen bekommt dann vieles in unserem Leben einen anderen Klang. Dann wird manches, was wir so wichtig nehmen, relativiert. Und was nehmen wir nicht alles wichtig! Dann ist vieles von dem, was wir erleben, nicht mehr so bedeutsam.
Doch nein! Das stimmt nicht! Natürlich sind all die Dinge, die wir erleben, bedeutsam. Das war schon immer und auch damals zur Zeit der Offenbarung des Johannes so. Man wird doch nicht sagen können, dass die Verfolgung der Christen damals nicht bedeutsam war. Natürlich waren Leiden und Schmerz eines jeden Christen und einer jeden Christin damals bedeutsam. Natürlich war der Märtyrertod, den manche wegen der Verfolgung durch den römischen Kaiser erleiden mussten, bedeutsam. Natürlich war es bedeutsam, diese schweren Zeiten durchzustehen und so den Sieg zu behalten. Natürlich war das alles bedeutsam.
Mit den Worten des Johannes von Patmos, mit seinen Bildern und Visionen, mit seinen Liedern und Gesängen bekommt nun all das, was die Christen damals erleben mussten, eine andere Klangfarbe. Wenn am Ende Singen sein wird und Loben und Jubel und Glück, dann sieht das Vorletzte, das Hier und Jetzt, schön oder schlimm, anders aus, so bedeutsam es auch sein mag.
II.
Dreieinhalb Jahre war ich jetzt hier bei Diakoneo. Es hätte länger sein können, sagen viele. Über die Gründe meines Stellenwechsels habe ich schon vieles gesagt. Auch wenn ich jetzt Neuendettelsau verlasse, all die Erlebnisse und Begegnungen verlieren dadurch nicht an Bedeutung.
In diesen dreieinhalb Jahren bin ich in für mich ganz neue Welten eingetaucht:
In die Welt der Diakonie. Miteinander arbeiten und leben hier bei Diakoneo. Für so viele von Ihnen ist die Diakonie seit langem Heimat. Es hat mich sehr beeindruckt, wie eng viele der Mitarbeitenden mit Diakoneo verbunden sind, mit wie viel Herzblut sie ihren Dienst tun. Das hat Bedeutung.
In die Welt der Diakonissen. Sie, liebe Schwestern, haben mir von Ihrem Dienst und von Ihrem großartigen Einsatz für die Menschen erzählt. Und jetzt im Alter sind Sie selber auf die Hilfe und Pflege anderer angewiesen. So ein Wechsel ist gar nicht so leicht. Sie haben mich beeindruckt und haben Platz in meinem Herzen. Das hat Bedeutung.
In die Welt der Mission bin ich eingetaucht. Die abenteuerlichen Geschichten aus Papua-Neuguinea: von Internierungslagern während des Zweiten Weltkriegs, von Flugzeugabstürzen und wunderbaren Rettungen, auch von kritischen Sichtweisen im Rückblick und Veränderungen im Missionsverständnis. Das hat Bedeutung.
In die Welt des Gesundheitswesens bin ich eingetaucht. Ich staune, was man in der Medizin heutzutage alles tun kann und wie sich damit auch die Grenzen zwischen Leben und Tod verschieben. Das bringt ethische Herausforderungen mit sich. Und dann der finanzielle Druck – so groß, dass die Klinik schließen musste. All das hat Bedeutung.
In die Welt des Alt- und Älterwerdens. Die seelsorgliche Begleitung von Seniorinnen und Senioren, wenn die Lebenskraft weniger wird und das Leben zu Ende geht, ist so wichtig. Wie viele habe ich begleitet, die jetzt nicht mehr hier sind. Das hat Bedeutung.
In die Welt der Hospizbewegung bin ich eingetaucht, in die Ausbildung von ehrenamtlichen Hospizbegleiterinnen und Begleitern. Ich bewundere, was ihr, diese Ehrenamtlichen, aus freien Stücken Gutes tut und leistet. Das hat Bedeutung. All das hat Bedeutung.
III.
Was Seelsorge ist, hat für mich noch mal ganz neue Konturen erhalten. Seelsorge ist – für mich jedenfalls –, dass all diese Begegnungen und Erlebnisse hier und jetzt nicht bedeutungslos sind, sondern Bedeutung haben. Für mich war das alles ein großes Geschenk. Danke.
Im Nachdenken über unser heutiges Bibelwort wurde mir noch mal deutlich: Seelsorge heißt darüber hinaus aber auch, all diese Begegnungen und Erlebnisse vom Ende her zu sehen. Von dieser letzten Szene. Vom Ziel, auf das wir alle zugehen. Denn am Ende wird Singen sein und Loben und Jubel und Glück.
Viele von Ihnen haben mir in den letzten Wochen und Monaten gesagt, dass sie meine unbeschwerte Fröhlichkeit so schätzten, mit der ich Ihnen begegnete. Ich habe dann geantwortet: „Gott hat mir halt ein fröhliches Gemüt geschenkt.“ Das stimmt gewiss. Im Nachdenken über unser heutiges Bibelwort ist mir aber klargeworden: Es ist mehr als ein geschenktes fröhliches Gemüt. Es ist diese Botschaft eines guten Endes. Es ist diese Vision von einer Welt ohne Leid, ohne Schmerz, ohne Geschrei, was mich hält und trägt und treibt. Am Ende wird Singen sein und Loben und Jubel und Glück. Und Singen tu ich ja nun wirklich gern! Ja, wir sollten die Dinge mehr von diesem wunderbaren Ende her betrachten. Dann sieht auch unser Heute anders aus.
IV.
Lesen Sie Bücher? So habe ich Sie am Anfang gefragt. Ich will Ihnen jetzt nicht raten, es so zu machen wie meine Frau und das Ende zuerst zu lesen. Für mich nähme das etwas vom Lesegenuss. Aber die Geschichte des eigenen Lebens sollten wir viel häufiger vom wunderbar verheißenen Ende eines neuen Himmels und einer neuen Erde her betrachten. Dann bekommt unser Leben auch heute einen ganz anderen Klang. Amen.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.