Predigt vom 10. Sonntag nach Trinitatis, 16. August 2020

Predigt zu Römer 9, 1-5; 10. Sonntag nach Trinitatis, Israelsonntag, 16. August 2020, 9.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Pfarrer O.G. Hartmann

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Lasst uns in der Stille beten. Amen.

Liebe Gemeinde,

ein Kind wurde geboren und ein Taufgespräch steht an. Ich besuche eine Familie. Die Paten sind dabei, und ein fröhliches Gespräch entsteht. Die Freude über das Neugeborene steht im Mittelpunkt, und gemeinsam überlegen wir, welcher Taufspruch über dem Leben des Neugeborenen stehen soll. Es gibt viele Ideen, und gemeinsam nähern wir uns einem Psalmwort. Die Paten sind dabei überaus engagiert: „Ich möchte meinem Patenkind etwas mitgeben. Etwas, das trägt und das bereits mir geholfen hat.“

Voller Freude und Staunen höre ich diese Sätze, und ich bin wirklich überrascht, als eine Patin ganze Psalmworte auswendig aufsagen kann. „Das hat mir meine Großmutter beigebacht. Jeden Abend hat sie mit uns am Bett einen Psalm gebetet. Das hat mir gutgetan. Aber irgendwie konnte ich das nicht weitergeben. Bei meinen eigenen Kindern habe ich versagt. Ich habe nicht weitergebetet.“- Auf einmal spüre ich einen ungeheuren Schmerz; einen Riss. „Es tut mir leid“, sagt sie. „Es tut weh.“

Ein anderer Schmerz – ein Riss - tat sich auch im Frühjahr dieses Jahres auf. „Kein“ – war das große Wort unserer Kirchen. Kein Gottesdienst. Kein Abendmahl. Kein Singen. Kein Hausbesuch. Keine Nähe. Keine Begegnung. Alte mussten ihre letzten Lebenswochen ohne ihre Angehörigen verbringen. Sterbende mussten allein in den Tot gehen. Persönlicher Beistand wurde der Pandemie geopfert. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich stehe zu den Entscheidungen im März. Und doch entstand und bleibt ein Riss: „Es tut weh. Wie soll das nur weitergehen?“

„Es tut mir leid, es tut weh. Wie kann es nur weitergehen?“ Das sind für mich in den letzten Wochen und Monaten wichtige Fragen und Gedanken geworden. Und ich bin dankbar, diesen Satz auch in der Heiligen Schrift zu finden:

So steht geschrieben im Brief des Apostels Paulus an die Römer im 9. Kapitel:

1 Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, 2 dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. 3 Denn ich wünschte, selbst verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch. 4 Sie sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, 5 denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch. Gott, der da ist über allem, sei gelobt in Ewigkeit. Amen.

Der Herr segne sein Wort an uns allen. Amen.

Was uns Paulus hier schreibt, stößt tief ins Wesen des christlichen Glaubens vor. Nichts Geringeres als der Glauben in seiner tiefsten existentiellen Dimension wird uns hier vor Augen geführt. Auch Paulus lebt im Riss, lebt mit Schmerzen. Keine schlanken Lösungen. Keine Ausflüchte. Keine Rationalisierungen. Keine Schuldzuweisungen.

Paulus selbst ist den Weg von seiner Kindheitsreligion zum Christentum gegangen. Unter dem Eindruck eines überwältigenden Bekehrungserlebnisses hat er seine Wahrheit in Christus gefunden. Für ihn war dieser Weg nicht einfach. Diesen Weg hatte er sich selbst nicht ausgesucht. Die tiefe Gewissheit und Wahrheit in Christus ist für Paulus auf ihn gekommen, nicht menschengemacht, sondern, wie es in unserem Predigttext heißt, empfangen, geschenkt - bezeugt im Heiligen Geist. Das ist zentral. Glaube ist ein Geschenk. Extra nos – wie die Alten sagen.

Die Verarbeitung seines religiösen Glaubensweges führte Paulus schließlich von seinen Wurzeln weg. Weg von der Heimat des antiken Judentumes hin zu einer neuen, anderen Gotteserfahrung. Eine Erfahrung im Horizont des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Und aus dieser Erkenntnis heraus wehrt er alle Versuche ab, Kompromisse zu machen.

Keine Rationalisierungen. Das wäre für Paulus kein Glaube. Glaube, der nicht das tiefste Wesen der eigenen Person betrifft und sich wahllos ändern könnte, wäre ja keine Gewissheit, keine Wahrheit. Paulus trägt den Glauben heraus aus den Bindungen seiner Elternreligion. Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden.

Zugleich führt dieser neue Weg nicht in die Verbannung des Alten. Weil er weiß, dass sein Glaube ihm selbst zum Geschenk gemacht wurde und zugleich nicht weiß, warum seine Brüder und Schwestern dieses Geschenk nicht zuteil wurde, tritt in die offene Stelle zwischen Alt und Neu, die Wahrung des Schmerzes. Es bleibt ein Riss. Und diesen gilt es auszuhalten.

Ja, die Schmerzen zulassen. Nicht kitten. Nicht verbinden. Für Paulus kann dieser Schmerz letztlich nicht gekittet und nicht verbunden werden kann. Den Schmerz zulassen, das ist auch Glaube. Oder tentatio, Anfechtung, wie die Tradition es nennt.

Bleiben im Schmerz - das ist kein leichtes Unterfangen. Vielleicht jedoch liegt gerade darin der Weg in die Zukunft. Die Schmerzen zulassen und benennen.

Am heutigen Israelsonntag wird das besonders deutlich. Welch grausame Wege wurden angewandt, um die Schmerzen zu lindern. Anstatt das Trennende zu benennen, wurde Schmerz einfach durch verschiedene Mittel zu heilen versucht. Das Judentum galt dann als das Alte, zu Vernichtende, und das Christentum als das Neue. Das Neue musste das Alte vernichten. Schmerz führte zu größerem Schmerz. Wie dieser Weg aussah, wissen wir heute nur zu gut. Nach der Shoa gab es dann schnell neue Mittel. Neue Mittel, die versuchten, den Schmerz zu bändigen. Dass nicht auszudrückende Unrecht, das vor allem die Deutschen über das Judentum gebracht hatten, sollte doch vergehen. Aber konnte der Schmerz vergehen? Und brachten die meist gut gemeinten Mittel nicht neue Schmerzen? Kann ich als Christ das Alte Testament wirklich anders lesen als durch Christi Kreuzigung und Auferstehung? Was bleibt da? Die Fragen in diesen Problemkreisen beschwören nur neue Fragen herauf - neue Schmerzen.

Paulus liefert ein Modell von Identitätsarbeit und Glaubenswahrheit in schwierigen Umständen: Die Widersprüche benennen. Mut haben zu den eigenen Empfindungen. Mut zur eigenen Wahrheit. Mut zu Pathos. Was schwer ist, darf auch schwer klingen. Schmerzen zu benennen und auszuhalten, macht die Sache nicht schwieriger, sondern erklärt den Zustand der Unaufklärbarkeit.

Das gilt im Blick auf die furchtbare Geschichte in unserem Land. Das gilt im Blick auf die Verbindung von Synagoge und Kirche. Das gilt im Blick auf unseren Alltag. Unseren Glauben und unser Kirche-Sein.

„Es tut mir leid, es tut weh. Wie kann es nur weitergehen?“ – Wenn ich diese Gedanken zulasse, kann vielleicht Neues entstehen. Neu werden kann es dann auch nochmal im Patenamt. Die alten und tröstlichen Psalmworte werden am Bett des Patenkindes neu gebetet. Die Scham durch Corona lässt Kirche dort neu erblühen, wo die alten Quellen wieder zugelassen werden, anstatt mit neuen Mitteln die alten Wunden zu verdecken.

Paulus lässt seinen Schmerz zu. Und am Ende unseres Predigttextes passiert das Wunderbare. Am Ende steht: Gott, der da ist über allem. Die Schmerzen, das Trennende sind in Gott aufgehoben. Am Ende, da ist Gott. Über allem waltet Gott. 

Nicht wir entscheiden letztlich, sondern er. Das mag bisweilen auch schmerzlich sein, weil im Hier und Jetzt Gräben bleiben, Differenzen nicht überwunden, nicht zugedeckt werden können. Aber die in Gott zugemutete Einheit aller Dinge kann unsere innerweltliche Zerrissenheit tragen und bewahren helfen. Ja, auch bewahren - bewahren vor den zerstörerischen Versuchen, Einheit in Dingen der Gesinnung, der Ethik oder der Religion unter uns herzustellen. 

Gott gewährt uns Spielräume. Spielräume, um für das Eigene einzustehen und den anderen in seinem Anderen stehen zu lassen. Gott, der da ist über allem, sei gelobt in Ewigkeit. Amen.

P Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

G Amen.

Verwandte und zitierte Literatur:

Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann: Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2011.

Meyer-Blanck, Michael: 10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag): Gedenktag der Zerstörung Jerusalems. Römer 9, 1-5, in: Denkskizzen. Zu den Predigttexten der sechs Perikopenreihen, hg. v. Christoph Levin, Stuttgart 2019. 222-225.

Prantl, Heribert: Kirchenleere, in SZ 8/9. 8. 2020, S. 5.

Schwarz, Reinhard: Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015.

Von Schleiha, Arnulf: Predigt über Röm 9, 1-5, in: Ders.: Der Islam im Kontext der christlichen Religion (Studien zum interreligiösen Dialog 6), Münster 2004, 179-184.

Wolter, Michael: Der Brief an die Römer (Teilband 2: Röm 9-16) (EKK VI/2), Ostfildern und Göttingen 2019.

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