Predigt vom 21. Sonntag nach Trinitatis, 24. Oktober 2021

Predigt zu Matthäus 10, 34-39, 21. Sonntag nach Trinitatis, 24. Oktober 2021, 10.00 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Pfarrerin Karin Goetz

Wir lernen in unserem Leben vieles, wir vergessen auch wieder vieles. Aber es gibt Schlüsselerlebnisse, die uns im Gedächtnis bleiben. Ich möchte so eine Lernerfahrung mit Ihnen teilen:

Ich habe ein Jahr in den USA studiert, in North Carolina, einem Staat, der früher zu den sogenannten Südstaaten gehörte. In diesen Südstaaten mussten früher Sklaven aus Afrika schuften. Auch nach ihrer Befreiung hatte die schwarze Bevölkerung dort viel weniger Rechte als die weißen Amerikaner. Die dunkelhäutigen Menschen wurden ausgegrenzt. Sie galten als minderwertig. Sie durften nicht auf die Schulen gehen, die weiße Kinder besuchten. Sie durften nicht wohnen, wo sie wollten. Sie durften nicht überall essen, sitzen oder aufs Klo gehen. Sie durften sich im Bus nur auf die hinteren Plätze setzen. Sie konnten nicht richtig teilhaben.

Ende der fünfziger Jahre entstand in den USA die Bürgerrechtsbewegung: Schwarze Amerikaner forderten die gleichen Rechte. In der Bürgerrechtsbewegung gab es zwei ganz bedeutende Führungspersonen:

Martin Luther King und Malcolm X. Martin Luther King ist auch in Deutschland sehr bekannt. Für uns ist er so eine Art evangelischer Heiliger. Kirchen und Straßen sind nach ihm benannt. In der Schule und im Konfirmandenunterricht wird seine bekannteste Rede gelesen: I have a dream. Ich habe einen Traum. In dieser Rede beschreibt Martin Luther King, wie unterschiedlichste Menschen versöhnt, gleichberechtigt und friedvoll zusammenleben.

Malcolm X ist in Deutschland wenig bekannt. Er war ein Gegner von Martin Luther King. Für ihn waren weiße Menschen „Teufel“. Sie tun so, als seien sie offen und liberal, doch in ihrem Herzen sind sie zutiefst rassistisch. Das Christentum war für ihn die Religion der Sklavenhalter. Malcom X ist zum Islam übergetreten. Er war kämpferisch, radikal, scharf.

Beide Männer – Martin Luther King und Malcom X – sind wegen ihres Engagements erschossen worden.

In meinem Studienjahr in den USA besuchte ich einen Kurs in Black Church Studies, einen Kurs über die Geschichte der Kirche der dunkelhäutigen Menschen. In der ersten Unterrichtsstunde brachte uns der Professor eine Liste mit Zitaten mit. Wir sollten entscheiden: Welche Sätze hat Martin Luther King gesagt? Welche Sätze hat Malcolm X gesagt?

Die Aufgabe schien einfach. Die schönen, die versöhnenden, die erhebenden Worte schrieben wir Martin Luther King zu. Die radikalen, die kämpferischen, die harten Worte schrieben wir Malcolm X zu.

In der zweiten Stunde bekamen wir unsere Arbeiten zurück. Sie waren voller Rotstift. Wir staunten. Die schönen, die versöhnenden, die erhebenden Worte stammten von Malcolm X. Die radikalen, die kämpferischen, die harten Worte waren von Martin Luther King.

Was habe ich aus dieser Übung gelernt? - Zum einen dies: Jeder Mensch trägt eine ziemliche Bandbreite in sich: von ganz freundlich und versöhnlich bis zu wütend und kämpferisch. Zum anderen das: Wir machen uns ein Bild von einem anderen Menschen und neigen dazu, Dinge, die nicht dazu passen, wegzuschieben. Wir hatten uns offenbar ein Bild von Martin Luther King gemacht, das weichgespült war. Und im Gegenzug hatten wir ein viel zu radikales Bild von Malcolm X.

Kann es sein, dass es uns mit Jesus genauso geht?

Ich habe diese sehr lange Einführung gemacht, weil ich mit Ihnen heute an einen heiklen Punkt heran muss.

Ja, ich denke, dass es uns mit Jesus genauso geht. Jeder von uns braucht für sich ein Bild von Jesus, um mit ihm in Kontakt treten zu können, um mit ihm sprechen zu können. Wer ist Jesus für Sie? Ihr liebevoller Freund, ihr barmherziger Bruder, ihr guter Hirte, einer, der immer die Hand ausstreckt, einer, der für Inklusion und Teilhabe steht?

Und was ist christliches Leben für Sie? Ein Weg zur Selbstfindung und Selbstverwirklichung? - Viele verbinden mit christlichem Leben ein sichtbar gesegnetes Leben, ein Leben voller Harmonie, Frieden, Glück und Zufriedenheit, ein Familienleben, in dem Ehe und Erziehung der Kinder gelingen.

Ich möchte Sie gerne an meiner anfangs geschilderten Lernerfahrung teilhaben lassen. Ich habe eine kleine Liste mit Zitaten mitgebracht und Sie dürfen jetzt entscheiden: Stammt dieser Satz von Jesus? Dann heben Sie die grüne Karte! Oder ist dieser Satz nicht von Jesus? Dann heben Sie die rote Karte!

„Selig sind die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

„Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen auf die Erde, sondern das Schwert.“

„Familien sind sehr wichtig für die Weitergabe des Glaubens. Familien sollen zusammenhalten, einander helfen und füreinander da sein.“

„Ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“

„Mit Glück und Wohlergehen werden die gesegnet, die mir nachfolgen.“

„Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert.“

Jetzt sind wir alle mehr als bereit, den heutigen Predigttext zu hören. Er steht am Ende der Aussendungsrede Jesu im 10. Kapitel des Matthäusevangeliums. Die Aussendungsrede ist an Jesu Jünger gerichtet. In ihr sind viele Gedanken zu Nachfolge und Sendung zusammengetragen.

34 Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. 35 Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. 36 Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. 37 Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. 38 Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. 39 Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.

Bei solchen Worten hält man als Hörerin und Hörer unwillkürlich die Luft an. Bin ich dafür heute morgen aufgestanden und in die Kirche gegangen, um mich so herausfordern zu lassen? - Ausnahmslos alle Auslegungen und Predigten, die ich zu diesem Text gelesen haben, beginnen mit diesem Entsetzen: „So ein widerborstiges Wort! Was für eine harte Rede! Wie kann Jesus die Menschen spalten wollen? Die Schwierigkeiten, in die mich dieser Text hineinzieht, übersteigen das, was ich bewältigen kann. Das klingt nach einem religiösen Extremisten, nach christlichen Taliban.“

Diese Worte aus der Aussendungsrede Jesu scheinen nicht zu unserem Bild von Jesus zu passen. Auch nicht zu unserem Bild vom christlichen Leben. Sie klingen hart, radikal, kämpferisch – als wären sie von Malcolm X.

Wagen wir uns heran an diese herausfordernden Worte:

34 Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.

Dieser Satz kann leicht missverstanden werden. Und dieser Satz ist in der Geschichte missverstanden worden. Jesus ruft seine Jünger nicht dazu auf, selber zum Schwert zu greifen und mit Waffengewalt für das Evangelium zu kämpfen. Bei seiner Verhaftung im Garten Gethsemane hat Jesus Petrus daran gehindert, mit dem Schwert auf die Gegner einzuschlagen. Christinnen und Christen sollen das Schwert nicht aktiv ergreifen. Vielmehr ist es so: Christinnen und Christen müssen damit rechnen, dass das Schwert der anderen sie trifft. Christen wurden nicht nur von den jüdischen Behörden verfolgt, sondern auch von der römischen Staatsgewalt, weil sie den Kaiserkult verweigerten.

In der Aussendungsrede bereitet Jesus seine Jünger darauf vor, was auf sie zukommen kann. Wenn sie von Jesus erzählen, treffen sie nicht überall auf Zustimmung. Sie müssen mit Gegenwind rechnen. Sie müssen sich auf harte Auseinandersetzungen einstellen. Besonders schwer auszuhalten ist, dass es gerade dort zu Streit und zu Spaltungen kommt, wo Menschen großen Wert auf Frieden und Harmonie legen: in ihren eigenen Familien.

35 Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. 36 Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. 37 Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.

Für die Leser des Matthäusevangeliums ist hier ihre eigene Lebenswirklichkeit beschrieben. Als sie sich der neuen Glaubensbewegung anschlossen, sind sie zu Außenseitern in ihrer eigenen Familie geworden. Die Familien zerstritten sich, wenn sich einer der neuen christlichen Sekte anschloss. Wer Christ werden wollte, musste sich oftmals entscheiden, zwischen der Liebe zu Jesus und der Liebe zu seiner Familie.

Verlangt Jesus von uns, dass wir uns alle von unseren Familien lossagen? - Ich will Jesus nicht so verstehen, obwohl man seine radikalen Worte durchaus so lesen kann. Jesus hebt aber das 4. Gebot, das Gebot der Elternliebe, nicht auf.

Ich verstehe Jesu harten Worte darum so: Wenn man dir keine Wahl lässt, wenn man dich hindert, deiner Berufung zu folgen und Gottes Willen zu tun, dann musst du dich entscheiden zwischen deiner Familie und mir. Löse dich dann von deiner Familie und wähle mich. Die Bindung an mich ist etwas Absolutes. Die Bindung an deine Familie ist nur vorläufig. Nachfolge heißt, sich gegen das zu stellen, was einen hält.

Jesus selbst hat sich ganz bewusst von seiner Familie getrennt. Jesus hat seiner Familie die rote Karte gezeigt. Das begann schon am Anfang der Pubertät, als er weglief und drei Tage verschwunden war. Als seine Eltern ihn nach langer Suche schließlich im Tempel finden, bekommen sie von ihm nur eine patzige Antwort: Ihr hättet doch wissen können, dass ich im Hause meines Vaters bin.

Als Jesus auf Wanderschaft ist, bekommt er Besuch von seiner Mutter und seinen Brüdern. Sie wollen ihn nach Hause holen. Doch Jesus lässt seine Familie vor dem Haus stehen. Er verweigert ein Gespräch. Nicht die da draußen sind seine Mutter und seine Brüder, sondern die, die auf seine Worte hören und sie tun.

Jesus war in einem Alter, in dem es natürlich und wichtig ist, nicht im Hotel Mama zu bleiben, sondern sich von seiner Familie zu lösen, selbständig zu werden und einen eigenen Weg im Leben zu finden. Ich habe in der Pubertät und in meinen Zwanzigern in manchen Fragen ähnlich leidenschaftlich und radikal gedacht wie Jesus. Aber ich durfte älter werden. Vielleicht hätte Jesus mit den Jahren auch anders gedacht über seine Herkunftsfamilie und über seine eigene, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre...

Bei uns in Deutschland sind Spaltungen in Familien um der Religion willen höchst selten. In der Regel entflammt kein Familiendrama mehr, wenn der gutverdienende Vater wegen der Kirchensteuer aus der Kirche austritt, wenn die Mutter weiterhin zum Frauenkreis geht, während sich die Schwiegermutter zu den Anthroposophen hält, wenn die Tochter Buddha cool findet, während der Sohn nur an das glaubt, was man messen und wiegen kann.

Der Glaube ist - wenn überhaupt - für viele nur ein kleiner Teil des eigenen Lebenskonzeptes, so wie es auch der Sportverein oder die Musikschule oder der Spaziergang am Sonntagnachmittag ist. Heftigen Streit gibt es eigentlich nur, wenn der Glaube zu gesellschaftlichen und politischen Einstellungen führt, die von der Mehrzahl der Familie oder der Freunde nicht geteilt wird: beim Umgang mit Flüchtlingen zum Beispiel oder bei den Maßnahmen rund um Corona.

Wie sollen sich die Menschen verhalten, die mit ganzem Ernst Christen sein wollen? Die ihr Leben entschieden an Christus binden wollen?

Jesu Worte fordern uns auf, unsere Komfortzone zu verlassen und Stellung zu beziehen. Das kann schmerzlich sein - in der Familie, am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis. Jesus ermutigt dazu, Konflikten nicht auszuweichen, sondern einzutreten für das, was ich als Gottes Wille erkannt habe. Meine Entscheidungen können dazu führen, dass sich andere von mir trennen, dass ich an Ansehen und Rückhalt verliere. Das muss ich aushalten. Genauso wie die Ungewissheit, dass ich auch falsch liegen könnte.

Wichtig ist, dass Christus mein Zentrum ist. Dass ich das, was ich sage und tue, um Christi willen tue. Christus zuerst.

38 Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. 39 Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.

Zur Nachfolge gehört es, sein Kreuz auf sich zu nehmen. Das Kreuz auf sich zu nehmen bedeutet, den Widerstand, die Konflikte und die Trennungen zu ertragen. All das ist Teil des Weges mit Jesus. Mir zeigen Jesu Worte, dass ich etwas riskieren muss, wo ich mich ernsthaft mit ihm auf den Weg machen möchte. Wer sich auf Jesus wirklich einlässt, muss sich auf allerhand gefasst machen.

Doch am Ende steht keine Drohung, sondern eine Verheißung: Leben ist zu gewinnen. Dass Leben gerade dort gefunden werden kann, wo es verloren wird, das ist das große Geheimnis unseres Glaubens. Christi Kreuz und Grab waren am Ende leer. So werden auch unsere Kreuzwege und unsere Gräber einmal leer zurückbleiben

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft wird unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren. 

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