Predigt vom 11. Sonntag nach Trinitatis, 23. August 2020

Predigt zu Lukas 18, 9-14; 11. Sonntag nach Trinitatis, 23. August 2020, 9.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Pfarrer Oliver Georg Hartmann

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Lasst uns in der Stille beten. Amen.

Lukas 18, 9-14

9 Er sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: 10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11 Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. 12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. 13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! 14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Liebe Gemeinde,

in der Vorbereitung auf die heutige Predigt kam mir mein jüngeres Ich in den Sinn: Leicht fläzend und kippelnd sehe ich mich im Christenlehreraum meiner Kindheit sitzen, meine Jacke durch die alten Wände beschmierend und auf den Pfarrer wartend. Voller Neugier saß ich da und freute mich auf eine Bibelgeschichte. Der Spitzbube in mir war voll in seinem Element, wenn eine Geschichte schon neulich im Kindergottesdienst oder Religionsunterricht besprochen wurde. Da konnte ich etwas unleidlich werden und meinen armen Gemeindepfarrer wirklich herausfordern: „Eine andere Geschichte bitte, die kenne ich schon!“, waren meine Worte.

Eine andere Geschichte bitte, diese kenne ich schon – dieser Gedanke durchzieht auch die Kommentarliteratur zu unserem heutigen Predigttext. Ist die Geschichte nicht zu einfach und zu bekannt, als dass sie noch einen Kommentar erträgt? Was ist mit der Wirkungsgeschichte dieser Beispielerzählung? Ist sie nicht voller Klischees und Kritik des Christentums am Judentum? - In der Tat, unsere Geschichte hat in der Auslegungstradition merkwürdige und fragwürdige Früchte hervorgebracht: vom „verabscheuungswürdigen Pharisäer“ bis zum „Idealtyp des demütigen Sünders, der fast von einem Heiligenschein umgeben ist.“

Von daher: Zurück auf Los, wie es bei Monopoly heißt. Zurück zum Anfang. Mein jüngeres, spitzbübisches Ich muss sich gedulden.

Zwei Männer befinden sich auf dem Weg zum Tempel. Zwei Männer wollen eine Pflicht erfüllen. Es ist eine kultische Pflicht: das Gebet als Hinwendung zu Gott. Und so begeben sie sich an denjenigen Ort, an den - jüdischen Glaubens gemäß - Gott seine heilsame Präsenz in einmaliger Weise gebunden hat: Beide kommen vor Gottes Angesicht, und Gottesgegenwart konfrontiert sie jeweils mit sich selbst.

Das verbindet beide, den Pharisäer und den Zöllner. Beide ziehen zum Tempel hinauf. Beide besuchen einen heiligen Ort. Ich meine, das trennt die Gegenwart wie kaum etwas anders von der Geschichte. Blicke ich auf die Entwicklung des Protestantismus in der jüngsten Vergangenheit, so beschleicht mich das Gefühl: Zumindest im EKD-Protestantismus sind die Stätten des Gebets und Orte des Sakralen selten geworden. Eine merkwürdige Kultkritik durchzieht alle Papiere, und auch die konkreten Orte religiösen Lebens veröden zunehmend: Kirchen sind verschlossen, Friedhöfe werden nicht mehr gepflegt, Orgeln verstummen, Gebetszeiten und Gottesdienste werden weniger, weil ja nicht wichtig. Wer betet da? Alte Menschen und merkwürdiges Kultpersonal. Beides gehört doch der Vergangenheit an, und beides gilt es abzuschaffen.

Wie anders zu Zeiten Jesu: Die Pharisäer waren die religiös herrschende Partei, angesehen im ganzen Volk - daher ihr Selbstbewusstsein und ihr Führungsanspruch. Die wirklichen Pharisäer haben im antiken Palästina unglaubliches geleistet: Sie gaben dem Volk eine positive Hoffnung auf die Zukunft, wurden Lehrer und Erzieher im Gesetz, kämpften gegen das Analphabetentum, errichteten Schulen, Lehrhäuser und Synagogen. Sie brachen mit der Macht des Priesteradels, förderten die soziale Verantwortung und Armenpflege. Sie versuchten, ihre Welt nicht nur als Schriftgelehrte zu interpretieren, sondern zugleich als Männer der Tat zu verändern. Dass das Judentum trotz schwerster Verfolgungen die Jahrtausende überdauern konnte, ist vor allem ihr Werk!

Wie anders heute. Wer sind heute die Pharisäer? Blicke ich auf die Auslegungsgeschichte, werden die Pharisäer gern mit den altmodisch Religiösen verglichen. Dabei scheiden die sogenannten Frommen der Gegenwart eher aus. Selbst die sogenannten Pietisten der Jetztzeit passen kaum, selbst wenn hier und dort noch sehr gern von „böser Welt“ und „Sünde“ gesprochen wird. Sie sind schon lange nicht mehr in der Mehrheit. Zahlen und Einfluss, wie die Pharisäer des antiken Palästina, haben sie nicht. Selbstbewusstsein und Angst – Pharisäer und Zöllner – sind heute ganz anders verteilt. Selbstgerechtigkeit ist kein Vorrecht der Frommen mehr. In den selbsternannten Intellektuellen- und Akademikerzirkeln unserer Gegenwart nehme ich vielmehr eine - wenn auch unfromme - Selbstgerechtigkeit wahr.

Da gibt es dann Konsumverzicht, wie in der Antike. Askese und Selbstgerechtigkeit ohne Ende. Orthopraxie – also die Anleitung zum richtigen Handeln – füllt ganze Zeitungen, Zeitschriften, Blogs und Bücherläden. Der „Zehnte“ wird dann auch ganz gern gegeben. Hilfsorganisationen dienen der persönlichen Entlastung. Moral ohne Ende. Eine Moral, die den anderen, das Andere in seiner Eigenständigkeit gar nicht mehr in den Blick nimmt. Moral ohne Ende. Oder sollte ich sagen, Ideologie? Dabei: Mit Formeln wie „Solidarität mit den Ausgestoßenen“ oder „Recht für die Unterdrückten“ ist nichts erklärt, nur verschleiert, dass dieselben, die solche Formeln im Munde führen, sich sehr rege an der Verketzerung moderner Zöllner beteiligen und darüber pharisäischer werden als alle nur denkbaren Pharisäerkarikaturen.

Der Graben zwischen der Vergangenheit unseres Textes und unsere heutiger Situation ist breit. Die Bilder passen nicht mehr. Unsere Geschichte entzieht sich vorschnellen Identifizierungen. Sie eignet sich nicht zum billigen Schwarz-Weiß-Malen. Aber was hat uns dann unser Predigttext heute zu sagen?

Also: Zurück auf Los, wie es bei Monopoly heißt. Zurück zum Anfang.

Zwei Männer befinden sich auf dem Weg zum Tempel. Zwei Männer wollen eine Pflicht erfüllen. Es ist eine kultische Pflicht: das Gebet als Hinwendung zu Gott. Und so begeben sie sich an denjenigen Ort, an den - jüdischen Glaubens gemäß - Gott seine heilsame Präsenz in einmaliger Weise gebunden hat: Beide kommen vor Gottes Angesicht, und Gottesgegenwart konfrontiert sie jeweils mit sich selbst.

Beide kommen vor Gottes Angesicht, und Gottesgegenwart konfrontiert sie jeweils mit sich selbst. Für mich liegt hierin der Schlüssel der Geschichte. Die Geschichte möchte uns den Spiegel vorhalten. Den Spiegel des Angesichtes Gottes. Darum geht es. Wir alle, Fromme und Unfromme, Progressive und Liberale, Konservative und Linke, Pharisäer wie Zöller, wir alle werden ohne Ausnahme hier von Jesus in die Gegenwart Gottes selbst gestellt. Darum lässt Jesus die Szene im Heiligtum spielen. Wir werden vor Gott gestellt. Und nur aus dieser und in dieser Perspektive fragt er uns: Welche Gerechtigkeit wollen wir wählen? Unsere eigene, die sich darstellt in unserm Rechtdenken und Rechthandeln. Unserem richtigen Bewusstsein? Unserer Orthopraxie oder Orthodoxie?

Ich glaube, die Schwierigkeit, die die ganze Auslegungsgeschichte durchzieht, liegt in dieser Perspektive begründet. Gott und das Heilige wurde mehr und mehr aus der Welt getilgt. Ausgesperrt. „Entzaubert“, wie es so schön heißt. Gott ist eigentlich kein Gegenstand unserer Erfahrung und unserer Vorstellungswelt mehr. Das Heilige ist an den Rand gerückt. Immer weniger wahrnehmbar und auch vermittelbar. Ganz konkret in unseren Kirchen und Gemeinden, aber auch in unserer Theologie und Diakonie. Gebet und Gottesdienst - doch eher Orte der Selbstreflexion und ethischen Besinnung als Orte der Begegnung mit dem Heiligen. Kaum noch einer zieht zum Heiligtum.

Übrig bleibt der Mensch. Der Mensch steht völlig allein. Dabei gibt es selbst heute noch ein Restgespür auf eine andere Welt. Recht schön beschreibt dies der Münchner Soziologe Armin Nassehi. Er beschreibt, wie moderne Menschen ein Gotteshaus betreten. „Sobald sie die Kirche betreten, ändert sich ihr Habitus, selbst wenn sie keine Idee davon haben, was eigentlich ein Kirchenraum oder ein sakraler Raum ist. Die Schritte werden kleiner, die Geschwindigkeit wird langsamer, die Lautstärke geringer.“ In dieser Beschreibung und dieser Darstellung bleibt etwas eingefangen. Die Ahnung, dass die Welt nicht in ihrem Selbstsein aufgehen sollte oder die Sehnsucht, dass die Welt nicht alles ist.

Ja, Gottesgegenwart erfahren und sich Gottesgegenwart stellen. Dem Zöllner unserer Geschichte passiert das Wunderbare. Er erfährt Gottesgegenwart. Er schlägt sich auf die Brust, eine Geste vor allem der Totenklage. Es ist der Ausdruck völliger Verzweiflung. Ihm bleibt nur ein Stoßgebet. Ein Gebet, indem sich seine Buße offenbart. Nicht selbstgemacht, sondern in Gottes heilsamer Gegenwart erfahren. Ja, er lässt Gott eigentlich nur Gott sein. Der Zöllner hat erfahren, dass seine Existenz vor Gott nicht aushaltbar ist. Denn die Wirklichkeit ist nun einmal vor allem eines: voller Schwierigkeiten, voller Grautöne und äußerst komplex. So komplex, dass eine Reduktion auf Moral und Ethik, auf Orthopraxie und Ideologie nur zu ihrem Ende kommen kann.

An sein Ende kommt der Mensch jedoch nur, wenn er bei sich und in seiner Welt gefangen bleibt. Unsere Beispielgeschichte möchte uns davon befreien und zeigen: Am Ende, da ist Gott. Gott und seine Gerechtigkeit.

P Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

G Amen.

Verwandte und zitierte Literatur:

Bovon, François: Das Evangelium nach Lukas (Lk 15, 1-19,27) (EKK III/3), Düsseldorf, Zürich und Neukichen-Vluyn 2001.

Hengel, Martin: Die ganz andere Gerechtigkeit. Bibelarbeit über Lk. 18,9-14, in: Theologische Beiträge (1974), Band 5, 1-13.

Möller, Christian: 11. Sonntag nach Trinitatis. Lukas 18,9-14, in: Hören und Fragen. Eine Predigthilfe. Band 1. Erste Evangelienreihe, hg. von Arnold Falkenroth und Heinz Joachim Held, Neukirchen-Vluyn 1987, 280-286.

Nassehi, Armin: Die gebaute Präsenz der Kirchen und die soziale Präsenz des Religiösen, in: Kirche und Kunst 92 (2015) Heft 1, 4-10.

Ohst, Martin: 11. Sonntag nach Trinitatis. Lukas 18,9-14, in: Denkskizzen. Zu den Predigttexten der sechs Perikopenreihen, hg. v. Christoph Levin, Stuttgart 2019, 226-229.

Schwarz, Reinhard: Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015.

Schweizer, Eduard: Das Evangelium nach Lukas (NTD 3), Berlin 1983.

Voigt, Gottfried: Der schmale Weg. Homiletische Auslegung der Predigttexte der Reihe I, Berlin 1978.

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