Predigt vom 9. Sonntag nach Trinitatis, 9. August 2020

Predigt zu Jeremia 1, 4-10; 9. Sonntag nach Trinitatis, 9. August 2020, Kirchweihe, 9.30 Uhr; St.Laurentius, Neuendettelsau; Pfarrerin Karin Goetz

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen

Lesung

Der Predigttext steht im Buch des Propheten Jeremia. Ich lese aus dem 1. Kapitel die Verse 4 bis 10:

4 Und des HERRN Wort geschah zu mir:
5 Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.
6 Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.
7 Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete.
8 Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.
9 Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.
10 Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.

Herr, gib uns ein Herz für dein Wort und ein Wort für unser Herz. Amen

Liebe Gemeinde,

I. Einleitung

was für ein wuchtiger Text! Eine Prophetenberufung mit direkter Ansprache Gottes. Gott spricht lebensbestimmende Worte voller Kraft. Das Leben Jeremias wird in der Ewigkeit verankert und aus dem Koordinatensystem einer normalen bürgerlichen Existenz herausgeschleudert.

Dieser beeindruckende Selbstbericht Jeremias begleitet mich seit über zwei Jahrzehnten, seit ich meine erste wissenschaftliche Arbeit im Fach Altes Testament über diesen Text geschrieben habe.

Noch viel länger begleitet mich die Frage, die uns der Predigttext - über den geschichtlichen Graben von 2500 Jahren hinweg - ans Herz legt, nämlich die Frage: Was ist meine Berufung, Gott? Was ist meine Bestimmung im Leben? Gibt es eine besondere Aufgabe, für die ich vorgesehen war, noch ehe mich Gott im Mutterleib bildete?

Jeremias Selbstbericht kann ganz unterschiedliche Gefühle wecken, in mir und bestimmt auch in Ihnen: Manchmal denke ich: Ein Glück, dass ich nicht Jeremia bin. Ich möchte nicht aushalten, was Jeremia erleben musste.

Manchmal denke ich: Schade, dass ich nicht Jeremia bin. Jeremia hatte die Gewissheit, dass er die richtige Aufgabe hat, dass alles so sein soll, wie es war und wie es ist. Auch das Schwierige. Und diese Gewissheit ist viel wert. Mit dieser Gewissheit lässt sich viel aushalten.

Diesen beiden Gefühlen möchte ich im Folgenden nachgehen:

II. Ein Glück, dass ich nicht Jeremia bin.

Berufen wird Jeremia wohl im Jahr 627 v. Chr., vielleicht mit Mitte zwanzig.

Wir wissen nicht genau, wie alt Jeremia war, als er sein Berufungserlebnis hatte, aber wir wissen, wie er sich fühlt. Er fühlt sich zu jung. Er fühlt sich unvorbereitet. Er fühlt sich überfordert. Er sieht in sich nicht das Talent, öffentlich vor Leuten zu sprechen und Gottes Wort zu verkündigen. Hinzu kommt, dass er kein gebürtiger Jerusalemer ist, sondern vom Land kommt. Wer soll einen Jungspund und ein Landei in Jerusalem ernst nehmen?

Gott wischt die Einwände weg. Auf dreierlei Weise.

Gottes erstes Argument lautet: Ich kenne dich. Ich kenne dich besser, als du dich selbst kennst. Ich kannte dich nämlich schon, bevor ich dich im Mutterleib bereitete und sonderte dich aus, bevor du geboren wurdest. Ich weiß ganz genau, dass du zum Propheten für die Völker bestimmt bist.

Gottes zweites Argument lautet: Fürchte dich nicht. Fürchte dich nicht vor den Menschen, die dir Steine in den Weg legen, die dich nicht ernst nehmen, die gehässig zu dir sind, die dir drohen, die dich verfolgen werden. Ich bin bei dir und werde dich immer wieder retten. Ich lasse dich nicht im Stich.

Gottes drittes Argument lautet: Du musst deine Predigten, deine Botschaften nicht selber schreiben. Du musst nicht stundenlang vor einem leeren Blatt sitzen und dich quälen. Im Gegenteil. Ich lege meine Worte in deinen Mund. Sie werden aus dir heraussprudeln. Ganz ohne Mühe.

Gott besiegelt sein Versprechen mit einer Zeichenhandlung: Gott berührt Jeremias Mund.

Dann setzt er ihn ein zum Propheten über Völker und Königreiche, um auszureißen und einzureißen, um zu zerstören und zu verderben und um zu bauen und zu pflanzen.

Auf Jeremias Aufgabenliste stehen nur zwei positive Begriffe: bauen und pflanzen. Die ersten vier Aufgaben sind destruktiver Natur. Jeremia soll ausreißen und einreißen, zerstören und verderben.

Jeremia war ein Prophet, der in erster Linie Unheil verkündete, der klagte und anklagte, der Zerstörung und Untergang androhte. Das ist kein schöner Auftrag. Damit macht man sich keine Freunde. Spielverderber, die nur herummotzen und die Stimmung verhageln, kann keiner leiden. Jeremias kritisches Wort will keiner hören.

Kaum ein anderer Prophet hat so unter seinem Amt gelitten wie Jeremia. Jeremia war einsam. Als Zeichen für seine Gerichtsbotschaft sollte er ehe- und kinderlos bleiben. Bisweilen droht er unter der Last seines Dienstes zu zerbrechen. „Ach, wäre ich doch nie geboren worden“, ruft er in seinen Klageliedern einmal unter Qualen aus. Viele verspotten ihn als Irren, erklären ihn zu einem Lügner, verprügeln ihn. Einmal wird er gar in den Schlamm einer Zisterne geworfen. Nicht einmal seine Herkunftsfamilie unterstützt ihn. Im Gegenteil.

Jeremia hält gut 40 Jahre lang durch, solange bis das Südreich von den Babyloniern 587 v. Chr. erobert und die Stadt und der Tempel zerstört werden.

Im Grunde ist Jeremia ein tragischer, ein gescheiterter Prophet. Trotz all seiner Warnungen und Drohungen hat er den Untergang und die Zerstörung Judas nicht aufhalten können. Das kleine Juda betrieb seine irrwitzige Politik unbeeindruckt weiter. Ein überheblicher König auf dem Thron Davids folgte auf den anderen. Die zweite Rebellion gegen Babylon, die neue Großmacht, endet schließlich in der Katastrophe.

Das Positive an Jeremias Botschaft – das Bauen und Pflanzen – das entfaltet sich erst posthum, bei den Menschen im Exil und später bei den Rückkehrern. Jeremia selber hat das wohl nicht mehr miterlebt. Nach der Zerstörung Jerusalems verliert sich seine Spur. Wahrscheinlich erleidet Jeremia in Ägypten einen gewaltsamen Tod.

Ein Glück, dass ich nicht Jeremia bin.

Der geschichtliche Jeremia möchte wohl keiner freiwillig sein: einsam, unbeliebt, erfolglos im Beruf und am Ende sogar noch ermordet.

Und doch gibt es in seiner Lebensgeschichte ein Momentum, um den man Jeremia beneiden muss. Das ist sein Berufungserlebnis. Wenn ich unseren heutigen Predigttext lese, dann denke ich:

III. Schade, dass ich nicht Jeremia bin

Nur ganz wenigen Menschen ist es vergönnt, so ein explizites Berufungserlebnis geschenkt zu bekommen. Das ist schade. Denn mit so einer Gewissheit im Rücken lässt sich vieles - vielleicht sogar alles - im Leben aushalten.

Wir übrigen, wir erforschen unser Herz und fragen uns, was unser Weg im Leben ist.

Worauf soll ich hören? Wer weist mir den Weg?

Soll ich dem folgen, was ich in mir selbst erkenne? Wo ich mich schon bewiesen habe? Wo ich meine Stärken sehe? Und soll ich das meiden, was ich mir nicht zutraue? Was mir gefühlsmäßig zuwider ist? Was ich nicht will?

Oder soll ich eher auf die anderen hören? Auf die Wünsche meiner Eltern? Auf die Lehrer, die etwas in mir sehen? Auf die Vorgesetzten, die mich für eine bestimmte Aufgabe vorsehen? Auf die Personen, die mich für ein Ehrenamt anfragen?

Auf diese Fragen gibt es leider keine eindeutige Antwort.

Manchmal wissen wir ganz genau, was für uns richtig ist. Und finden unsere eigene Meinung bestätigt. Ein anderes Mal folgen wir unserem Herzen und fallen dabei böse auf die Nase, weil wir uns verschätzt und übernommen haben.

Manchmal entdecken wir, dass ein anderer mit seiner Einschätzung richtig lag. Dass es ein Verlust gewesen wäre, wenn wir das Unbekannte, zu dem wir überredet wurden, nicht gewagt hätten. Ein anderes Mal bereuen wir, dass wir auf andere gehört haben und nicht unserem eigenen Gefühl getraut haben.

Das ist eine Erkenntnis, die ich nicht nur aus meinem eigenen Leben kenne, sondern auch aus den vielen Gesprächen mit den Diakonissen im Selma-Haffner-Heim mitnehme.

Kaum eine Diakonisse hat grundsätzlich an ihrer Berufung zu ihrem Dienst gezweifelt. Anders sieht es bei den konkreten Arbeitsaufträgen aus. Manche Diakonissen hegen bis heute einen stillen Groll gegen frühere Oberinnen und Rektoren, die sie gegen ihren Willen auf eine bestimmte Stelle gezwungen haben, wo sie sich überfordert und fehl am Platze gefühlt haben. Andere wiederum sind dankbar, dass ihnen eine Aufgabe zugemutet wurde, die sie sich selber nie zugetraut hätten und für die sie sich selber nie freiwillig gemeldet hätten.

Schade, dass ich nicht Jeremia bin.

Bei allem, was Jeremia erleiden und erdulden musste, hatte er zumindest die Gewissheit, dass er das Richtige, Gottgewollte tat. Das ist unschätzbar viel wert.

Die Krankenkassen berichten immer wieder, dass die Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme ständig anwachsen. Inzwischen ist mehr als jede dritte Krankschreibung auf seelische Leiden zurückzuführen.

Dafür werden viele Gründe angegeben.

Ich denke, dass ein wesentlicher Grund darin liegt, dass ganz viele Menschen ihre Berufung im Leben nicht mehr spüren können. Wenn ich meine Berufung nicht mehr spüren kann, dann gehe ich innerlich unter bei all dem Kleinklein, den Problemen und den Rückschlägen, mit denen ich Tag für Tag umgehen muss.

IV. Unsere Berufung

Auch wenn den meisten von uns ein Berufungserlebnis, wie es Jeremia wohl gehabt hat, versagt bleibt, glaube ich fest daran, dass jede und jeder von uns von Gott berufen ist.

Gott beruft uns. Dich und mich. Gott beruft uns zum Reden. Gott beruft uns zum Handeln. Gott legt uns seine Worte in den Mund und Gott legt uns seine Taten vor, dass wir danach handeln. Gott ruft uns bei unserem Namen. Gott braucht uns für diese Welt. Jeden Tag und jede Stunde neu.

Manchmal spüren wir den Ruf in unserem Herzen. Manchmal sind es andere Menschen, die uns fordern und herausfordern. Plötzlich und unerwartet, mitten im Leben werden wir gebraucht.

Nach dem Zeichen, das Gott uns gibt, müssen wir Ausschau halten. Es ist für jede und jeden anders.

Für mich persönlich ist es ein Bild, das ich im Alter von 10 Jahren gemalt habe und das ich während meines Vikariats wieder entdeckt habe. Im Religionsunterricht habe ich bei der Einheit „Die Bibel“ als Titelbild kein Buch gemalt, so wie es 99% aller Schülerinnen und Schüler bis heute tun. Ich habe ein Bild von einer Kanzel gemalt und mich im Talar und mit akkurat gezeichnetem weißen Beffchen.

Ich glaube fest daran, dass das, was Gott Jeremia zugesagt hat, auch für jede und jeden von uns gilt: Gott kennt mich. Gott hat Aufgaben für mich. Gott sagt mir: Fürchte dich nicht, denn ich stehe dir bei. Besonders dann, wenn es schwer wird.

V. Moderne Jeremias

Liebe Gemeinde,

zu allen Zeiten hat es Propheten wie Jeremia gegeben.

Für viele Jugendliche ist Greta Thunberg ein heutiger, moderner Jeremia.

Greta Thunberg ist jung, sehr jung, 17 Jahre alt und seit drei Jahren die Gallionsfigur der Klimaschutzaktivisten. Mit ihrem einsamen Schulstreik für das Klima hat sie die weltweit aktive Bewegung Fridays for Future inspiriert.

Greta Thunberg spricht unbequeme Wahrheiten aus. Sie ordnet die Zeichen der Zeit nicht nur in ihr Leben, sondern in unser aller Leben ein und vor allem in das Leben der jungen Generation.

Auf der UN- Klimakonferenz in Katowice sagte sie: »Was ich auf dieser Konferenz zu erreichen hoffe, ist die Erkenntnis, dass wir einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt sind. Dies ist die größte Krise, in der sich die Menschheit je befunden hat. Zuerst müssen wir dies erkennen und dann so schnell wie möglich etwas tun, um die Emissionen aufzuhalten und versuchen, das zu retten, was wir noch können.«

Greta Thunberg sagt nicht nur Unheil an, sie sagt nicht nur, dass der Kessel kocht. Sie sagt auch, dass es noch etwas zu retten gibt.

Die Welt braucht Propheten und Prophetinnen wie Jeremia und Greta. Und die Welt braucht Menschen, die deren kritische Botschaft hört und ernst nimmt und entsprechend handelt. Gott braucht uns für diese Welt. Jeden Tag und jede Stunde neu.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. 

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