Predigt vom Sonntag Judika, 29. März 2020

Predigt zu Hebräer 13, 12-14; Sonntag Judika, 29. März 2020, 9.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Pfarrer Oliver Georg Hartmann

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Lasst uns in der Stille um den Segen aus Gottes Wort bitten. Amen.

So steht geschrieben im Brief an die Hebräer im 13. Kapitel:

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Der Herr segne sein Wort an uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

in diesen Tagen sind wir eingesperrt. Ich kann es mir nur schwer vorstellen, wie das bei Ihnen ist: Allein im Zimmer, nur das Telefon als Tor zur Außenwelt, die Übertragungsanlage als Tor zu unserem heutigen gemeinsamen Gottesdienst.

Da möchte ich unseren Text doch wirklich einmal wörtlich nehmen: Hinaus vor das Tor, vor das Lager … Gehen, endlich gehen, einmal herauskommen und in Bewegung sein - ja, das wäre schön. Das würde mir jetzt gut tun.

Stattdessen: Übertragung. Isolation. Alleinsein.

Dabei wäre es gerade in Zeiten der Not und existenziellen Bedrohung besonders wichtig, miteinander zu sprechen, sich gegenseitig Mut zu machen und vor allem gemeinsam Gottes Wort zu hören und auch Gottesdienst feiern zu können.

Das geht nicht und es ist auch richtig, dass wir uns entschieden haben, keine Gottesdienste abzuhalten, so schmerzhaft die Entscheidung auch für mich persönlich ist. Dass es auch ohne gemeinsame Gottesdienste geht, zeigt uns paradoxerweise unser heutiger Predigttext:

So kurz der Predigtabschnitt für den Sonntag Judika ist, so sehr hat er es in sich. Unser Text gilt als die knappste Zusammenfassung der allegorisch-symbolisch breit entfalteten Hebräer-Christologie und ihrer soteriologischen Bedeutung für die Gemeinde. Mit dem Hebräerbrief steht der - neben Paulus und Johannes - dritte große Theologe des Neuen Testamentes vor uns. Eine enorme Dichte und ein tiefer Sog durchziehen unsere drei Verslein.

Und jedes Verslein verdient seine eigene Predigt. Ich möchte mich daher beschränken und über das Wort „draußen vor dem Tor“ predigen.

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.

Draußen: Ein schwieriges Wort. Im Spiel Mensch-ärgere-dich-nicht ist das Rauswerfen der Mitspieler das Ziel. Das macht sogar Spaß. Schließlich will jeder gewinnen. Doch wenn wir nicht gerade miteinander spielen, ist so ein Rauswurf etwas ganz anderes. Der ist dann alles andere als lustig. Draußen zu sein, ist dann ein hässliches Gefühl. Wir bemitleiden Menschen, die dort sind. Wer möchte schon gern NICHT mit dazugehören? So verstanden, ist draußen ein schrecklicher Ort. Und ja, viele solcher Orte gab es und gibt es.

„Draußen vor der Tür“ finden sich Menschen immer wieder vor im sozialen Leben. Wenn Ehen zerbrechen, sitzen Partner und Kinder draußen. Getrennt von der Familie müssen sie sich neue Beziehungen aufbauen und neue Freunde suchen.

Und in diesen Tagen für uns: Wer wird nach der Krise an seinen Arbeitsplatz zurückkehren können? Gibt es die Firma überhaupt noch?

„Draußen vor der Tür“ – das ist verbunden mit Schmerzen, mit Alleinsein, mit dem Gefühl von überflüssig sein, oft auch mit Leid und mit Tod.

In unseren Tagen kehrt sich das „Draußen vor der Tür“ gerade um. Wir sind drinnen hinter der Tür – und damit eben auch abgeschnitten vom sozialen Leben. Das betrifft besonders diejenigen, die ohnehin allein oder hilfsbedürftig sind. Hinter der Tür spielen sich dann auch die Familiendramen, die Streitereien auf engstem Raum ab. Wir sind drinnen und doch draußen aus der Gemeinschaft, draußen aus dem sozialen Leben.

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.

Beim schnellen Lesen könnte sich der Gedanke einstellen, auch Jesus ist draußen. Und irgendwie stimmt das ja auch. Aber es geht hier doch viel tiefer. Hinter dem „Draußen“ des Hebräerbriefes verbergen sich mehr als soziale Spannungen und Konflikte.

Der Hebräerbrief lebt wie kein zweites Buch des Neuen Testamentes aus der tiefen Quelle biblischer Bilder. Auf engstem Raum verdichten sich hier Begriffe und Bedeutungsnuancen. Im Vers 11, der heute nicht zu unserem Predigttext gehört, wird ebenfalls ein Draußen beschrieben. Hier erzählt der Hebräer sehr anschaulich vom Tempeldienst und den Tieropfern, welche nach dem Gottesdienst außerhalb des Lagers – also draußen, fern vom Tempel, verbrannt werden.

Dieses Bild nimmt der Hebräer auf und wendet es auf Jesu Tod am Kreuz. Ganz anschaulich beschreibt er deshalb: Jesu Hinrichtung und Tod geschah draußen vor dem Tor, weit weg vom Tempel und den Plätzen Jerusalems. Dass Jesus nicht in der Stadt gekreuzigt werden konnte, ist dabei etwas völlig Selbstverständliches.

So selbstverständlich und keiner besonderen Rede wert, dass die Evangelien dann auch gleich den Ort angeben, wo das Geschehen stattfand. Für den Hebräer hingegen ist dieser Ort überhaupt nicht wichtig. Kein Wort von Golgatha. Er bleibt im Bild des Zuges, nennt keinen Ort, braucht keinen Ort … Es geht hinaus aus der Stadt. Vor den Toren findet das Wichtigste statt. Draußen, bei den wilden Tieren, bei den Gottlosen … dort stirbt Gott. Und indem Gott dort stirbt, passiert das Wunder: Das Draußen wird zum Drinnen. Die alten Grenzen von hier und dort, innen und außen, Sakralität und Profanität … sie verwischen. Sie zählen nicht mehr. Kein heiliger Ort hier und dort die Welt. Nein: Gott heiligt die Welt und zerbricht die alten Kategorien.

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen.

Das ist eine Ungeheuerlichkeit. So ungeheuerlich, dass viele alte Textüberlieferungen die Passage „draußen vor dem Tor“ auch gleich gestrichen haben. Es scheint so, als könne der Mensch mit dieser Allgegenwart Gottes nicht leben. Viel schöner ist es dann, wenn ich doch weiß, wo ich Gott finden kann und wo er mich bitte in Ruhe lässt. Gott in der Kirche und ich draußen in der Welt. Kirche da und dort die Welt. Doch diese Trennung gibt es nicht, gibt es seit Karfreitag nicht mehr.

Und das ist auch der Grund, warum wir jetzt gemeinsam Gottesdienst feiern können. Hier in der Kirche und jeder allein in seinem Zimmer. Es ist möglich, weil Gott überall mit seinem Geist ist. Gott ist draußen. Im Wohnpark, im Selma-Haffner-Heim und gar an der Muna.

Dass das die Sache nicht leichter macht, weiß auch der Hebräerbrief. Nicht ohne Grund fordert er darum zu einer Nachfolge in Schmach auf. Denn den einen Ort gibt es nicht mehr, und deshalb gibt es auch keine Entlastung. Wir können uns Gott nicht einfach vergewissern, indem wir nach Jerusalem oder wohin auch immer reisen. Christsein funktioniert nicht nach der Methode: Am Sonntag eine Stunde in der Kirche und alles wird gut. Nein! Christsein und der christliche Gottesdienst soll im Alltag verwirklicht werden, und das ist schwer.

Und gerade in diesen Tagen spüre ich, wie schwer das sein kann. Viele Menschen haben das verlernt. Gott in der Kirche. Ich in der Welt. Zuhause beten? Die Bibel aufschlagen? Eine Kerze anzünden? Wo kann ich Gott im Alltag noch sehen? Und so ist beispielsweise das Kreuz fast völlig verschwunden. Keine Kreuze mehr in öffentlichen Gebäuden. Keine Kreuze mehr in unseren Häusern oder im sogenannten Herrgottswinkel, unter denen wir uns versammeln und beten können. Nur noch selten ein Wegkreuz am Straßenrand, an welchem ich mit dem Auto kurz parken und den Blick auf Gott ausrichten kann. Viel zu oft hat sich der sogenannte Protestantismus über diese Kreuze lustig gemacht.

Dabei ist das doch die große Einladung Gottes. Gottesdienst geht auch im Alltag. Dafür brauche ich keine Kirchenräume, keine Gemeinde und keinen Pfarrer.

Und ein wenig beneide ich da unsere Diakonissen: Zu deren Tracht gehört von Grund auf das Kreuz. Und das Kreuz schwingt bei allen Dingen des Alltags mit. Ja, so ist Gott. Gott geht mit.

Und wenn ich mich alleine fühle, kann ich das Kreuz umfassen und weiß: Ich bin nicht allein, sondern Gott ist bei mir. Gott ist bei mir draußen … So wie er draußen gekreuzigt wurde. Gott ist bei mir, auf meiner Brust.

„Draußen vor der Tür“ – das ist oft verbunden mit Schmerzen, mit Alleinsein, mit dem Gefühl von Überflüssigsein. Gott sei Dank bedeutet das bei Gott etwas anderes. Weil Gott draußen - in der Welt ist, ist Gott bei mir: Ich bin geborgen bei Gott.

P Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

G Amen.

Verwandte und zitierte Literatur:

  • Breidenbach, Johanna: Im Innenraum der Gnade, in: GPM 74 (2020), 217-222.
  • Grässer, Erich: An die Hebräer (EKK XVII/3), Neukirchen-Vluyn 1997.
  • Greiner, Gottfried / Meister, Sabine: Lesegottesdienst für den 5. Sonntag der Passionszeit – Judika (29. März 2020), Nürnberg 2020.
  • Lindenlauf, Herbert: Judika. Hebräer 13,12-14, in: Hören und Fragen. Eine Predigthilfe. Ergänzungsband zu 5+6, hg. von Arnold Falkenroth und Heinz Joachim Held, Neukirchen-Vluyn 1983, 339-350.
  • Weiss, Hans-Friedrich: Der Brief an die Hebräer (KEK 13), Göttingen 1991.
  • Zimmerling, Peter: Die Bedeutung der Volksfrömmigkeit für die evangelische Spiritualität – am Beispiel der Advents- und Weihnachtsfrömmigkeit, in: Handbuch Evangelische Spiritualität. Band 2. Theologie, hg. v. Peter Zimmerling, Göttingen 2018, 267-290.
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