Predigt vom 4. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni 2021

Predigt zu Genesis 50, 15-21; 4. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni 2021, 9.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Pfarrerin Karin Goetz

„Man sieht sich immer zweimal im Leben.“ - Das ist eine bekannte Redewendung. Man kann diesen Satz in einem guten Sinne sprechen: Wenn ein Abschied traurig ist, wenn eine Trennung allen Beteiligten weh tut - dann bleibt die Hoffnung: Es ist nicht für immer. Irgendwann sehen wir uns wieder. In der Regel wird dieser Satz aber nicht so verwendet.

„Man sieht sich immer zweimal im Leben.“ - Wer diesen Satz sagt, hat meistens eine ziemliche Wut im Bauch. Wer diesen Satz sagt, meint ihn als Drohung: „Jetzt, in diesem Streit, da hast du gewonnen. Da hast du deine Macht ausgenutzt und mir geschadet. Aber warte nur ab. Man trifft sich immer zweimal im Leben. Und beim nächsten Mal sitze vielleicht ich am längeren Hebel. Dann zahle ich dir deine Gemeinheit heim. Dann räche ich mich.“

„Man sieht sich immer zweimal im Leben.“ - Das ist eine uralte Wahrheit. Das ist eine biblische Weisheit.

Es ist nicht gut, unversöhnt aus einem Streit herauszugehen. Es ist nicht gut, die Brücken zu einem anderen Menschen abzubrechen. Denn ich kann nie wissen - das Leben ist wie ein Hase: Das Leben schlägt die verrücktesten Haken. Irgendwann treffe ich vielleicht wieder auf den anderen.

Manchmal liegen zwischen den Begegnungen viele Jahre oder sogar Jahrzehnte. Manchmal liegen große Entfernungen dazwischen. Aber immer wieder einmal geschieht das, womit keiner der Beteiligten gerechnet hat. Man trifft wieder aufeinander - unter völlig veränderten Vorzeichen. So ergeht es manchen verfeindeten Kollegen. So ergeht es manchen zerstrittenen Familien. So erging es Josef und seinen elf Brüdern.

Viele Jahre ist es her, als Josef von seinen eigenen Brüdern in einen Brunnen geworfen und an Sklavenhändler verkauft wurde. Eine unfassbare Tat! Und trotz allem hat Josef noch Glück im Unglück gehabt. Einige seiner Brüder wollten ihn gar umbringen.

Was ist der Grund für diesen abgrundtiefen Hass unter den Geschwistern? - Die Hauptursache für den Hass ist ein Erziehungsfehler des Vaters. Jakob hat mit vier Frauen zwölf Söhne und eine Tochter. Eine geradezu moderne Patchworkfamilie – eine Familie mit mehreren Erwachsenen und Kindern.

Es könnte funktionieren, doch Jakob macht einen entscheidenden Fehler, einen Fehler, der menschlich verständlich ist, aber dennoch schwere Folgen hat: Jakob bevorzugt eine der Frauen und einen der Söhne. Jakob hat einen Sohn – Josef - lieber als seine anderen Kinder. Er schenkt ihm Sachen, die die anderen nicht bekommen, zum Beispiel etwas ganz Schönes und Farbenfrohes zum Anziehen.

Josef ist ein Jugendlicher in der Pubertät. Die Liebe und die Bevorzugung seines Vaters steigen ihm zu Kopf. Josef fühlt sich seinen älteren Brüdern überlegen. Und er zeigt dies seinen Brüdern auch offen. Seine älteren Brüder haben eine Riesenwut auf Josef, dieses verhätschelte Großmaul, das sich selbst überschätzt und auf seine hart arbeitenden Brüder herabsieht.

Als sich eine günstige Gelegenheit bietet, wollen die Brüder Josef loswerden. Ein für allemal. Sie werfen ihn in einen Brunnen und verkaufen ihn an Sklavenhändler. Ihrem Vater Jakob erzählen sie eine Lügengeschichte. Josef hätte einen tödlichen Unfall gehabt, er sei von einem wilden Tier angegriffen und getötet worden.

Doch für die Brüder wird nun nicht einfach alles gut: Das schlechte Gewissen lässt sie nicht los. Sie leben fortan mit der Angst, dass ihre Tat aufgedeckt und bestraft wird. All die Jahre plagt sie eine verstörende innere Unruhe. Und auch ihr Vater Jakob ändert nicht einfach sein Verhalten. In seiner Trauer sucht sich Jakob einen anderen Lieblingssohn aus: das Nesthäkchen, seinen jüngsten Sohn Benjamin.

Josefs Leben in Afrika in Ägypten gleicht derweil einer Achterbahnfahrt: Zunächst scheint Josef Glück im Unglück zu haben. Er wird Diener in einem angesehenen ägyptischen Haushalt. Doch nach falschen Anschuldigungen landet er ganz unten: im Gefängnis. Im Gefängnis deutet er die Träume prominenter Gefangener. Diese Fähigkeit bringt ihn wieder nach oben. Und zwar nach ganz oben. Er erhält eine Führungsposition im ägyptischen Reich. Josef lässt in den folgenden Jahren große Getreidespeicher bauen und darin Lebensmittel horten.

Als eine große Hungersnot über den ganzen orientalischen Raum einbricht, ist Ägypten gut gerüstet. Ägyptens Getreidespeicher sind voll. Von überall kommen Flüchtlinge ins Land und suchen Hilfe. Unter den Flüchtlingen sind auch Josefs Brüder. Sie bitten um Lebensmittel für ihre hungernden Familien daheim.

„Man sieht sich immer zweimal im Leben.“

Josefs Brüder - die Täter - kommen nun als Bittsteller zu ihrem früheren Opfer. Es ist für ein Opfer schlimm, den Tätern zu begegnen, die ihm Gewalt angetan haben. Josef erkennt seine Brüder sofort. Aber seine Brüder erkennen Josef nicht. Josef sagt nicht, wer er ist. Josef versöhnt sich nicht gleich mit seinen Brüdern. Dafür war die Tat der Brüder zu grausam. Dafür war der Bruch zu groß.

Versöhnung geschieht nicht einfach nur durch ein Wort - ‚Tschuldigung’, war nicht so gemeint - sondern durch ein langsames Wachsen der Seele. Vergebung und Versöhnung sind ein Lernprozess, der bei den Tätern und beim Opfer einiges in Gang setzen muss.

Josef lässt seine Brüder erst mal schmoren. Und zwar richtig heftig. Josef versteckt sich hinter der Maske des ägyptischen Beamten und lässt seine Brüder alle Härte des Mächtigen spüren. Er beschuldigt seine Brüder ohne jeden Grund der Spionage. Um ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen, zwingt er seine Brüder, von ihrer zerrütteten Familie zu erzählen, vom Vater Jakob, von Benjamin, dem Jüngsten, der beim Vater in Kanaan zurückgeblieben ist, und auch von ihm, dem Bruder, der nicht mehr da ist,

Josef tut so, als glaube er ihnen nicht. Er nimmt einen der Brüder als Geisel und verlangt von den anderen, dass sie zum Beweis ihrer Worte Benjamin, den Jüngsten, nach Ägypten bringen. Die Brüder sollen lernen, wie es ist, unbarmherziger Willkür ausgesetzt zu sein. Und die Brüder werden von Josef geprüft: Wie steht es nun um den Familienzusammenhalt? Werden sie sich für den gefangenen Bruder einsetzen oder werden sie ihn aufgeben?

Auf dem langen Weg von Ägypten nach Kanaan kommen die Brüder ins Nachdenken. Sie erkennen: Die Not, in der wir jetzt sind, kommt letztlich von unserer Schuld, als wir unseren Bruder Josef verraten und verkauft haben. Die Brüder holen Benjamin und ziehen mit ihm wieder nach Ägypten. Zunächst scheint alles gut. Der gefangene Bruder wird freigelassen. Die Brüder bekommen Getreide für ihre Familien ausgehändigt. Doch als sie abreisen, wird bei Benjamin ein silberner Becher gefunden. Josef hat den Becher verstecken lassen, um seine Brüder in Bedrängnis zu bringen.

Als Dieb droht Benjamin die Todesstrafe. Was tun die Brüder nun? Werden Sie den Lieblingssohn des Vaters einfach ausliefern oder stehen sie für ihn ein? - Die Brüder stehen für Benjamin ein. Gemeinsam stellen sie sich der Anklage. Einer von ihnen bietet an, die Strafe zu übernehmen, damit der Vater Jakob nicht noch einen Lieblingssohn verliert. Damit haben die Brüder die zweifache Bewährungsprobe bestanden.

Josef gibt sich endlich zu erkennen: Ich bin Josef, euer Bruder. Und Josef versöhnt sich mit seinen Brüdern. Alles scheint gut. Der alte Vater Jakob zieht mit dem Rest der Familie nach Ägypten und verlebt dort seine letzten Lebensjahre. Mit einem Segen für seine Söhne verabschiedet sich Jakob nach einem erfüllten Leben und stirbt.

Mit dem Tod des Vaters aber kommt noch einmal ein kritischer Moment. Die Angst der Täter vor ihrem Opfer flammt wieder auf. Gilt die Versöhnung auch noch nach dem Tod des Vaters? Oder ist jetzt doch der Moment der Rache gekommen? Die Brüder trauen dem Frieden nicht. Sie rechnen immer noch damit, dass Josef zurückschlagen könnte. Ihre Angst ist so groß, dass sie zunächst nur ausrichten lassen, was ihr Vater Jakob angeblich gesagt hat. Sie verweisen auf ihren Vater und den gemeinsamen Glauben als Schutz. Danach erst gehen sie selber zu Josef und bitten ihn um Vergebung.

Ich lese unseren heutigen Predigttext:

Predigttext 1. Mose 50, 15 - 21

15 Weil ihr Vater nun tot war, bekamen Josefs Brüder Angst. »Was ist, wenn Josef sich jetzt doch noch rächen will und uns alles Böse heimzahlt, was wir ihm angetan haben?« 16 Sie schickten einen Boten zu Josef mit der Nachricht: »Bevor dein Vater starb, beauftragte er uns, dir zu sagen: 17 ›Vergib deinen Brüdern das Unrecht von damals! Trage ihnen nicht nach, was sie dir Schlimmes angetan haben!‹ Darum bitten wir dich jetzt: Verzeih uns! Wir dienen doch demselben Gott wie du und unser Vater!« Als Josef das hörte, musste er weinen. 18 Danach kamen die Brüder selbst zu ihm, warfen sich zu Boden und sagten: »Bitte, Herr, wir sind deine Diener!« 19 Aber Josef erwiderte: »Habt keine Angst! Ich maße mir doch nicht an, euch an Gottes Stelle zu richten! 20 Ihr wolltet mir Böses tun, aber Gott hat Gutes daraus entstehen lassen. Durch meine hohe Stellung konnte ich vielen Menschen das Leben retten. 21 Ihr braucht also nichts zu befürchten. Ich werde für euch und eure Familien sorgen.« So beruhigte Josef seine Brüder und redete ihnen freundlich zu.

Die Josefsgeschichte ist eine Familiengeschichte. Eigentlich sogar eine recht typische. Es gibt viele Familien, in denen es in der Vergangenheit irgendwann einmal zu einem Bruch kam. Es gibt viele Familien, wo sich einzelne Mitglieder unversöhnlich aus dem Weg gehen – nach einer Scheidung, nach einem Erbfall, nach einem schlimmen Streit. Und es gibt viele Familien – manche sagen, es ist jede vierte Familie - wo einem Kind Schlimmes widerfährt. Ich bin immer wieder tief betroffen, wenn ich erfahre, was manche unserer Bewohner und Bewohnerinnen in ihrer Kindheit und Jugend erleiden mussten.

Die Josefsgeschichte zeigt: Hass, Schuld und Entzweiung gehen nicht einfach weg. Da wächst nicht einfach Grass drüber. Konflikte warten auf eine Lösung – und wenn es Jahrzehnte dauert. Verschweigen führt nicht weiter. Schuld muss zugegeben werden. Täter müssen sich ändern und ernsthaft um Verzeihung bitten. Schuld will vergeben und entsorgt werden. Ohne Versöhnung wird gar nichts gut – weder für die Opfer noch für die Täter. Die eigene Schuld sehen und dazu stehen, bedeutet Freiheit. Vergeben auch.

Josef zeigt am Ende noch einmal seine Größe. Er nimmt den Brüdern ihre Angst: „Fürchtet euch nicht. Ich werde nicht über euch richten, denn das ist Gottes Aufgabe. Die Versöhnung gilt. Ich will für euch und für eure Kinder sorgen.“

Wie ist ihm das möglich? Wie schafft es Josef zu vergeben, wo er doch so viel erlitten hat? - Josef kann seinen Brüdern vergeben, weil er im Rückblick auf sein Leben etwas Wichtiges begreift: „Ihr gedachtet es böse zu machen. Gott aber hat es gut gemacht. Er hat ein ganzes Volk dadurch am Leben erhalten.“

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat gesagt: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Das entspricht der Erkenntnis von Joseph. Als Josef im Brunnen saß, spürte er nichts als Angst und Verzweiflung. Als Josef fälschlich beschuldigt wurde, da stand er ganz allein.

Als er im Gefängnis saß, da hat er von Gott nicht viel gespürt. Josef konnte nicht verstehen, wie Gott das zulassen kann. Aber jetzt - im Rückblick - kann er Gottes Wirken sehen. Gott hat die Schuld der Brüder und der anderen Menschen in sein Heilshandeln eingebaut.

Joseph sieht, dass es am Ende um den Erhalt des Volkes Israel ging. Durch sein Wirken in Ägypten konnte er seine eigene Familie und viele andere Menschen vor dem Hungertod bewahren.

Damit ist seine ganze Lebensgeschichte von ihrem Ende her in ein anderes Licht gerückt.

Das ist Gnade. Das ist Segen. Wenn ich im Rückblick erkennen kann: Auch das Böse, das mir widerfahren ist, kann auf die eine oder andere Weise einen Sinn haben. Gott kann alles zum Guten wenden und mein Leben heilsam zum Ziel bringen.

Amen

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