Predigt vom Altjahresabend, 31. Dezember 2020

Predigt zu Exodus 13, 20-22; Altjahresabend, 31. Dezember 2020, 17.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Pfarrer Oliver Georg Hartmann

P Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

G Amen.

Lasst uns in der Stille um den Segen aus Gottes Wort bitten. Amen.

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

Wann haben Sie das letzte Mal Gott gespürt?

Ich weiß nicht, wie Sie mit dieser Frage umgehen, und ich bin ehrlich gesagt immer etwas skeptisch, was die sehr erfahrungsbezogene sogenannte „Spiritualität“ angeht. Ich habe bisher etliche Menschen getroffen, die mir etwas zu oft Gott geschaut haben.

Nichtsdestotrotz ist es für den Glauben eine relevante Frage: Wie hören, sehen, spüren wir Gott?

Mir kam beim Bedenken unseres heutigen Predigttextes diese Frage sofort in den Sinn, als ich erneut diese sehr konkrete Gotteserfahrung aus dem 2. Buch Mose vernahm: Während der ganzen vierzig Jahre in der Wüste stand Gott tagsüber in einer Wolkensäule und nachts in einer Feuersäule dem Volk Israel vor Augen. So erzählt es der biblische Bericht. Gottes Führung endete nicht mit der Befreiung aus der Sklavenherrschaft der Ägypter, sondern blieb sichtbar bis zum Einzug ins gelobte Land.

So steht geschrieben im 2. Buch Mose im 13. Kapitel:

So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.

Der Herr segne sein Wort an uns allen. Amen.

Wann haben Sie das letzte Mal Gott gespürt?

Diese Frage drängte sich mir nicht nur im Blick auf unseren heutigen Predigttext auf, sondern auch im Blick auf unser Jahr. Nur wenige Stunden noch, dann sinkt dieses Jahr vollends in sich zusammen. Um Mitternacht wird sein Grabgeläut ertönen. Und wir müssen Abschied nehmen. Wieder ist eine Zahl unseres Lebens historisch geworden – und mit ihr die Ereignisse unter dem Datum 2020. 2020, das war ungemütlich und karg. Die Prüfungen des Lebens schienen strenger – und die Noten, die uns erteilt wurden, vermutlich schlechter.

Unser Datum wechselt heute Nacht, das war immer so - aber heuer ist es uns vielleicht unheimlicher als sonst. Freilich: Ausgeliefert an den Lauf der Zeit waren wir schon immer. Ein Jahr endet, nichts mehr lässt sich ändern; keine Reue, kein Vorsatz zum Besseren kann mehr einholen, was geschehen ist. Unter der Ziffer 2020 ist kein Gran Möglichkeit mehr.

Und 2021? In wenigen Stunden werden wir ins Neue weniger hinüberziehen als hinübergezogen werden. Aus der letzten Stunde wird die erste, aber wir bleiben dieselben – und können doch unser selbst nicht sicher sein.

Wir sind unser selbst nicht sicher. Das ist zumindest für mich die eigentliche Bilanz dieses Jahres im Zeichen von Corona.

Unsicherheit und Risiko. Aktionismus und echte Hilfe. Unmut und stilles Ertragen. Verzweiflung und Angst.

Vielleicht liegt gerade in dieser Erkenntnis der eigentliche Schlüssel unserer menschlichen Existenz, gerade dann, wenn sie verbunden ist mit der Frage: Wann habe ich das letzte Mal Gott gespürt?

Von daher: Lasst uns in diesem Gottesdienst nicht länger auf die Stimmen unserer eigenen Seele lauschen, lasst uns nicht mehr nach den Bildern der Berichterstattung Ausschau halten, sondern lasst uns hören auf das ferne Wort aus den Anfängen eines anderen Volkes.

Während der ganzen vierzig Jahre in der Wüste stand Gott tagsüber in einer Wolkensäule und nachts in einer Feuersäule dem Volk Israel vor Augen. So erzählt es der biblische Bericht. Und was der biblische Bericht in starken Bildern ausmalt, ist nicht die Antwort auf die Frage, wie das genau vonstattenging, sondern die tiefe Erkenntnis: Gottes Geleit zeigt sich in der Helle des Tages ebenso wie in der Tiefe der Nacht. Die Wolken- und Feuersäule bewahrte das Volk Israel als ein Zeichen des göttlichen Schutzes und der göttlichen Leitung. Gott geht mit. Nicht als unbewegter Beweger philosophischer Spekulation, sondern begleitend, beweglich und bewegbar.

Das finde ich tröstlich: Gott lässt sich finden, egal, wo und wie ich bin. Darauf darf ich vertrauen. In aller Freude, aber besonders in den Nächten unseres Lebens. Im Blick auf unser nun vergehendes Jahr könnte dies bedeuten: Loslassen in der Sorge um unser Selbst. Viel zu oft ist menschliches Handeln – in aller berechtigten Sorge – doch nur selbstvermessenes Handeln, dass uns viel mehr zumutet, als wir leisten können. Sollten wir stattdessen nicht lieber Gott wirklich unseren Gott sein lassen, der für uns sorgt?

Die Wolken- und Feuersäule bewahrte das Volk Israel als ein Zeichen des göttlichen Schutzes und der göttlichen Leitung. Gottes Geleit ist nicht eindimensional, statisch, ein für allemal festgelegt, sondern vielfältig: Die Wolken- und Feuersäule zeigt: Auch im Glauben bleiben dunkle Stellen, Stunden der Nacht und der Verzweiflung. Die wirkliche Gestalt Gottes bleibt verhüllt. Sie selbst kann nicht mit sinnlichen, sondern nur mit geistlichen Augen geschaut werden. Gottes Nähe kann erfahren werden und ist doch nur verbürgt in seinem Geist. Das Offensichtliche, Spürbare, das, was des Menschen Herz so gern bewegt, ist Gottes Sache nicht.

Der christliche Glaube erkennt diese Präsenz und Dynamik auch im Leben Jesu. Konkret und doch verhüllt, dass ist das ganze Thema seiner Lebensgeschichte. Nicht selten wird dies mit dem Wort „Geheimnis“ umschrieben. Gott ist da und doch dem äußeren Auge verborgen: Er ist zerbrechlich und klein. Verloren und doch kraftvoll.

Es ist sicher kein Zufall, dass wir den Altjahresabend in der Weihnachtszeit begehen. Wir kommen aus der Christnacht, von der Krippe. Von daher kann uns in der heutigen Mitternacht auch nicht wirklich das Grabgeläut ans Ohr tönen. Eher sind es die Glocken der Ewigkeit, gegossen in der Glut der Menschwerdung Gottes und der Auferstehung Jesu Christi.

Weil das wahr ist, können wir ohne Schwanken die letzten Schritte im alten und die ersten im neuen Jahr setzen, denn kein Jahreswechsel, kein Gefühl der Einsamkeit und kein Fragen nach der Nähe Gottes und der tiefen Sehnsucht nach dieser kann uns nehmen, was seit der Christnacht feststeht: Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsere Nacht nicht traurig sein!

P Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

G Amen.

Pfarrer Oliver Georg Hartmann, Diakonisch-Theologischer Dienst

Verwandte und zitierte Literatur:

Baur, Jörg: Wort im Zeitenwechsel. Predigten 1989-1995, Stuttgart 1996.

Ebach, Jürgen: Gegenerfahrung – und ein „Kippbild“? (Ex 12,20-22 - 31.12.2020 - Altjahresabend), in: Göttinger Predigtmeditationen 75 (2020), 87-93.

Jaeger, Christof: Altjahresabend. 31.12.2020, in: Die Lesepredigt 2020/20201, hg. v. der VELKD, 73-79.

Plaut, W. Gunther (Hg.): Die Tora in jüdischer Auslegung. Band II. Schemot. Exodus, Gütersloh 2000.

Proksch, Otto: Theologie des Alten Testaments, Gütersloh 1950.

Schmidt, Werner H.: Exodus 7,1-15,21 (BKAT II/2), Göttingen 2019.

Schwarz, Reinhard: Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015.

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