3. Fastenpredigt am Sonntag Okuli, 15. März 2020

Dritte Fastenpredigt zu 2. Mose 20, 8-11; Sonntag Okuli, 15. März 2020, 9.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Prof. Dr. Johannes Rehm

Bei Fastenpredigten, liebe Gemeinde, handelt es sich bekanntlich um eine liturgische Praxis aus der katholischen Tradition. In ihnen geht es darum, dass ein moralisches Problem möglichst deutlich angesprochen wird. Wenn wir heute an diese katholische Praxis in ökumenischer Verbundenheit anknüpfen, dann möchte ich die Gelegenheit nutzen, eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung aufzugreifen, die nicht von einem Einzelnen verursacht noch von einem Einzelnen geändert werden kann. Es geht mir um den freien Sonntag vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Situation der allgemeinen Ruhelosigkeit sowie des Verlusts einer lebensdienlichen Balance von Arbeit und Ruhe.

Am 3. März war der Internationale Tag des freien Sonntags gewesen, weil an diesem Tag im Jahr 321 nach Christus der römische Kaiser Konstantin in einem Edikt den Sonntag zu dem verbindlichen Ruhetag in seinem Reich deklarierte. Damit wurde eine weltweite, über die Jahrhunderte bis heute nachwirkende, Praxis begründet. Nun weiß ich zu schätzen, dass in Neuendettelsau die traditionelle Sonntagskultur noch lebendig ist. Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenslagen leben hier miteinander am Ort. Aus der Seelsorge weiß ich, dass für Altenheimbewohner beispielsweise die Tage häufig sehr lang sind. Für uns Berufstätige stellt sich unsere Lebens- und Arbeitswirklichkeit im Allgemeinen grundlegend anders dar. Für uns gilt: Wir leben in einer gestressten Gesellschaft – darauf deuten auch zahllose Studien hin. Zwei Drittel der Berufstätigen empfänden ihr Arbeitspensum als zu hoch, heißt es zum Beispiel in einer Stressstudie der Techniker Krankenkasse. Vier von fünf Berufstätigen erlebten mentale Belastungen durch beruflichen Stress, so eine Untersuchung des Karrierenetzwerkes LinkedIn. 40 Prozent der Befragten berichteten von stressbedingten Schlafstörungen. Burnout, so scheint es, ist heute eine Bedrohung für sehr viele Menschen in der Arbeitswelt.

Dabei hat sich die reguläre Arbeitszeit in den letzten Jahren gar nicht erhöht. Was sich verändert hat, ist die Möglichkeit, sich von der Arbeit auch wieder zu erholen. Unsere Freizeit hat an Verlässlichkeit verloren. Sie wird ständig unterbrochen und überlagert von den Ansprüchen des Berufs. Über moderne Kommunikationsmittel sind wir für Chefs, Kollegen oder Kunden immer und überall erreichbar, können auch selbst andere jederzeit erreichen und im Prinzip stets weiterarbeiten, egal ob wir im Büro sitzen, zuhause am Küchentisch oder im Liegestuhl im Urlaub. Tatsächlich sind 70 Prozent der Beschäftigten nach einer Befragung des Wirtschaftsverbandes Bitkom im Urlaub dienstlich erreichbar. Wir Arbeitnehmer leben offenbar in ständiger Bereitschaft, sozusagen im „Stand-by-Modus“. Der gesunde Rhythmus von Arbeit und Ruhe geht uns dabei verloren. Ein beachtenswerter Befund ist auch, dass sich die Arbeitszeiten zwar nicht verlängert, aber verlagert haben. Viel mehr Menschen als früher müssen beispielsweise am Abend oder am Samstag arbeiten. Auch die Arbeit an Sonn- und Feiertagen hat zugenommen. In Bayern arbeiten laut amtlicher Statistik etwa 1,8 Millionen Menschen gelegentlich, regelmäßig oder ständig an Sonn- und Feiertagen – und das sind längst nicht nur die üblichen Verdächtigen wie wir Pfarrerinnen und Pfarrer oder das Personal in Kliniken. Atypische Arbeitszeiten haben sich längst berufs- und branchenübergreifend verbreitet. Das verändert das Familienleben. Künftig könnten viele erwerbstätige Eltern darauf angewiesen sein, ihre kleinen Kinder abends, nachts oder auch sonntags in einer Kita abzugeben. Die Bundesregierung hat dafür bereits das Programm „KitaPlus“ aufgelegt, mit dem die Einrichtung von 24-Stunden-Kitas überall in Deutschland gefördert wird. Der Trend zur Ruhelosigkeit könnte künftig noch stärker werden. Wenn wir uns anschauen, wie sich die Arbeitswelt digitalisiert, wie Roboter und Künstliche Intelligenz den Menschen Konkurrenz machen, dann wissen wir, dass der Druck auf uns alle eher zu- als abnehmen wird. Dem eine Grenze zu setzen, ist eine persönliche und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe! Roboter können und wollen wir nicht werden, im 24/7-Modus können wir nicht arbeiten. Die Arbeitswelt der Zukunft benötigt ein menschliches Maß. Wir müssen den gesunden Rhythmus aus Arbeit und Ruhe bewahren beziehungsweise wiederfinden. Hierfür bietet der Sonntag die besten Chancen.

Der Sonntagsschutz ist bei uns im Grundgesetz in einem Artikel verankert, der so bereits in der Weimarer Verfassung stand. Prominenter geht's also nicht. Der Sonntagsschutz ist Ausdruck unserer Rechtskultur und in unserer Gesellschaftsordnung tief verankert. Deshalb ist es selbstverständlich, dass der Sonntagsschutz da, wo er aktuell bedroht ist, immer wieder neu eingeklagt wird. Diejenigen, die dies tun und den Rechtsweg für den Sonntag beschreiten, haben meine große Sympathie und meine volle Unterstützung, denn sie setzen sich damit für ein hohes Rechtsgut ein, das man nicht kampflos preisgeben oder aufweichen lassen darf. Allerdings reicht die Beschreitung des Rechtswegs aus meiner Sicht allein nicht aus. Denn das Recht bedarf eines Fundaments im gelebten Ethos, also in unserer alltäglichen Praxis. Die Rechtsprechung geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern reflektiert und bezieht sich auf den Wandel von Lebensformen, Haltungen und Einstellungen. Deshalb ist es unabdingbar, dass jeder und jede von uns, der oder die sich für den Sonntagsschutz engagiert, sich darüber selbst Gedanken macht, was ihm oder ihr der Sonntag bedeute und was seine oder ihre persönliche Haltung sowie seine oder ihre eigene gelebte Praxis dazu sei.

Denn dadurch, dass wir den Sonntag begehen, machen sich Christen als solche kenntlich. Als Kaiser Konstantin 321 den Sonntag zum Ruhe- und Feiertag erklärte, lag hinter der alten Kirche damals bereits ein komplexer geschichtlicher Weiterentwicklungsprozess: Die Judenchristen, also die vom Judentum herkommenden Christen, brachten in die Sonntagsheiligung ihre Praxis des Sabbats ein, die in den 10 Geboten des mosaischen Gesetzes ihre Begründung hatte. Für sie war der Sabbat als letzter Tag Höhepunkt und Abschluss der Woche. Heidenchristen, also Menschen, die etwa bisher die römischen Götter verehrten, war der Sabbat zunächst fremd und neu. Ihnen lag es näher, am Tag der Sonne die Auferstehung Jesu als ersten Tag der Woche zu feiern. Die eine Perspektive reicht stärker zurück auf die Ruhe des ersten Schöpfungstages und greift die jüdische Sabbattradition auf. Die andere Perspektive blickt in die Zukunft, nach vorne, in der Hoffnung auf die Wiederkunft Christi. Diese beiden Perspektiven verschränken sich beim Sonntag, an dem wir innehalten, um zurück- und um aufzublicken. Schöpfung und Erlösung – darum geht’s am Sonntag.

Was beinhaltet nun die Sabbattradition, die Juden und Christen miteinander verbindet, und die bleibend auch unserem Sonntag Form und Inhalt gibt? Das Sabbatgebot, das Jesus für seine Anhänger als gültig bestätigte, lautet: "Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist und ruhte am siebenten Tage. Dann segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn" (Ex 20,8-11).

Dieses - nach der Zählung Martin Luthers - dritte Gebot, das auch Jesus praktizierte, schreibt den Anhängern der jüdisch-christlichen Tradition Folgendes bleibend ins Stammbuch: 1. Durch die Sabbatruhe nehmt ihr den Rhythmus der Schöpfung auf und seid im Einklang mit Gott selbst, wenn ihr ruht. 2. Dass Menschen arbeiten, entspricht dem Willen des Schöpfers, aber Gott unterbricht durch den Sabbat heilsam die menschliche Arbeit und begrenzt sie so. 3. Der Sabbat ist der große „Gleichmacher“, weil alle Menschen ohne Ansehen von Rang und Stand am Sabbat ruhen.

Diese drei Elemente bzw. Dimensionen der Sabbatheiligung gehören seitdem zur bleibenden grundlegenden DNA der jüdisch-christlichen Tradition und des biblischen Gottesglaubens. Mit den zehn Geboten und in unserem Zusammenhang speziell mit dem dritten Gebot ist eine gute Form gelingenden Lebens geschaffen: So werdet ihr, so können alle gut leben. Von unseren jüdischen Schwestern und Brüder können wir in Bezug auf die geistliche Hochschätzung des Sabbats als herausgehobene und gesegnete Zeit sehr viel lernen. Der jüdische Religionsphilosoph Abraham J. Heschel drückt diese Haltung so aus: „Zeit ist Gottes Gegenwart in der Welt des Raumes und nur innerhalb der Zeit können wir die Einheit aller Wesen spüren.“

Im Neuen Testament wird im 24. Kapitel des Lukasevangeliums davon erzählt, dass es der erste Tag der Woche ist, als zwei Männer niedergedrückt von der Erfahrung der Kreuzigung Jesu am Karfreitag ihrem auferstandenen Herrn begegnen, der mit ihnen Brot und Wein teilt und ihnen die Schrift auslegt. Die Jünger von Emmaus begründen zusammen mit den Frauen am Grab die Sonntagstradition der christlichen Kirchen. Sonntag ist deshalb für Jüngerinnen und Jünger Jesu bis heute der Tag, an dem ihr Herr mit ihnen Gemeinschaft haben und ihnen in Wort und Sakrament begegnen will. Es versteht sich von selbst, dass dafür an diesem besonderen ersten Tag der Woche Zeit und Raum sein muss. Es ist von jeher der erste Tag der Woche, das zeigt nach christlichem Glauben der Auferstandene selbst seiner Gemeinde, dass für sie "noch eine Ruhe vorhanden" ist, wie es im Hebräerbrief heißt. (Vgl. Hebr. 4,9)

Der Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus verliert sich gerade nicht im vergangenheitsorientierten Rückblick auf die Glaubenstradition, er erschöpft sich nicht im Hier und Jetzt, sondern weitet den Horizont hoffnungsvoll auf Gottes kommende Welt: All das feiern Christen Sonntag für Sonntag in ihren Gottesdiensten.

Nun bin ich selbst in eine Familie hineingeboren worden, in welcher der Sonntag stets gut unterscheidbar vom Alltag begangen worden ist mit Gottesdienstbesuch, einem gemeinsamen Sonntagsessen und zusätzlich auch meist mit einem Sonntagsspaziergang. All das prägt mich natürlich zutiefst bis heute in meiner persönlichen Gestaltung des Sonntags und auch in meinem öffentlichen Eintreten für den Sonntagsschutz.

Zeit ist Geld - so habe auch ich es in meinem Leben lernen müssen. Am Sonntag nun erfahren wir, dass Geld eben nicht alles ist. Die gemeinsam verbrachte Zeit in Beziehung und Familie ist unendlich wertvoll und nicht mit Geld zu bezahlen. Der Sonntag setzt der Arbeit und dem Geld eine heilsame und dringend notwendige Grenze. Der Rechtsschutz, den der Sonntag in unserer Gesellschaft genießt, beinhaltet, dass alle ein Anrecht auf nicht verzweckte Zeit haben und zwar am selben Tag, im selben Umfang und nicht zu unterschiedlichen Zeiten.

Was, liebe Schwestern und Brüder, kann und soll nun geschehen, dass denjenigen wie ich, die den Sonntag als kollektiven Ruhetag lieben und ehren, dieser besondere Tag erhalten bleibt? Und wie können wir Überzeugungsarbeit dafür leisten, dass diejenigen, die bisher den Wert des Sonntags unterschätzt haben, ihn in seiner umfassenden Bedeutung für Glauben, Leben und Kultur noch besser wertschätzen lernen und vielleicht doch noch Freude daran gewinnen?

Über den Gottesdiensten des biblischen alten und des neuen Bundes steht von jeher ein Psalmwort wie ein Motto: "Dies ist der Tag, den der Herr macht; lasst uns freuen und fröhlich an ihm sein." (Psalm 118, 24) Für unser großes Anliegen Sonntagsschutz bedeutet das aus meiner Sicht: Der Sonntag, jeder Sonntag ist ein Fest, also eine hoch erfreuliche gemeinschaftliche Angelegenheit. Mit Klagen und Schimpfen auf diejenigen, die den Sonntag nicht heiligen, ist dem Sonntag nicht gedient. Auch Belehrungen sind meist wenig wirkungsvoll. Wir brauchen eine Doppelstrategie für den Sonntagsschutz. Die Instrumente des demokratischen Rechtsstaats dürfen und sollen wir weiterhin nutzen, um den Sonntag als Ruhepol im Arbeitsalltag zu erhalten. Eine Demokratie lebt davon, dass Bürgerinnen und Bürger sich deutlich zu Wort melden. Das muss und das wird die „Allianz für den freien Sonntag“, an der sich erfreulich viele in unserer Kirche beteiligen, weiterhin tun, denn gemeinsam haben wir ja bereits sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit für den Sonntagsschutz erreicht. Die durch den Sonntag bewirkte Entschleunigung tut schließlich allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern unendlich gut in unserer schnelllebigen Zeit. Aber das allein wird nicht reichen. Es kommt auf unsere eigene Haltung an. Wir müssen zunächst selbst etwas mit dem Sonntag anfangen können. Wenn ich weiß, warum mir der Sonntag heilig ist und wenn ich erfahren habe, dass mir die Sonntagsruhe guttut, dann werde ich von selbst zum Sonntagsschützer. Dann kaufe ich natürlich am Sonntag nicht ein. Wenn mir meine eigene Sonntagskultur wertvoll ist, dann werde ich aber in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft die Ausdrucksweisen und den Jahresfestkreis anderer Kulturen ebenfalls achten. Da mir mein eigener Glaube am Herzen liegt, habe ich großen Respekt vor der Glaubensüberzeugung anderer Menschen und ihrer Glaubenspraxis in einem multireligiösen Umfeld.

Da ich selbst mein Plädoyer für den freien Sonntag öffentlich abgeben durfte, werde ich anderen Mitmenschen eine abweichende Meinung in einer pluralen Gesellschaft nicht verbieten wollen. Ich selbst möchte aber schon mit allem mir möglichen Nachdruck weiterhin dabeibleiben und werde dies auch immer wieder neu dialogisch in den öffentlichen politischen Diskurs einbringen, dass tiefe, uralte Lebensweisheit hinter dem Sonntag als kollektivem Tag der Ruhe steht. Wenn mein Sonntag unser aller Sonntag bleibt und immer mehr wird, dann bewahrt dies salutogenetisch vor Ruhelosigkeit und beinhaltet ein wesentliches, unverzichtbares Element sowie eine Dimension guten und gelingenden Lebens für uns alle. Amen

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