Predigt vom 10. Sonntag nach Trinitatis, 25. August 2019

Predigt zu Markus 12, 28-34; 10. Sonntag nach Trinitatis, 25. August 2019, 9.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Georg Jakobsche

Liebe Gemeinde,

Heute feiert die Kirche Israelsonntag, das besondere Verhältnis zum Judentum soll heute im Mittelpunkt der gottesdienstlichen Betrachtung stehen.

Es ist ein gebrochenes Verhältnis, kein unbelastetes, das Verhältnis zwischen Christen und Juden. Geistesgeschichtlich sind wir Christen als Christen ja so etwas wie Erben jüdischer Glaubenstradition. Ohne das Judentum ist unsere christliche Religion, so wie sie geworden ist, gar nicht denkbar. In gewisser Weise sind wir Juden und Christen Glaubensbrüder und Glaubensschwestern, wenn auch mit einem großen Altersunterschied. Soll dieser Aspekt der geistig-geistlichen Verwandtschaft im Mittelpunkt des heutigen „Israelsonntags“ stehen, so sieht der liturgische Kalender die Farbe Grün vor.

Sollen aber die Verletzungen und die Schuld, die es zwischen beiden „Halbgeschwistern“, den Juden und Christen, gab, im Fokus der Betrachtung stehen, soll vor allem auch unsere deutsche Geschichte des Miteinanders, des Gegeneinanders und des Missbrauchs bis hin zum geplanten und teilweise auch ausgeführten Genozid im Mittelpunkt stehen, so schlägt der liturgische Kalender vor, aus dem heutigen Sonntag einen „Bußtag“ zu machen und die liturgische Farbe Violett in der Kirche anzubringen.

Was tun mit diesem Israelsonntag? Es ist vielleicht auch deshalb richtig schwer zu entscheiden, weil Judenhass neu in unserer Gesellschaft ausbricht, und der scheint mir nicht mehr oder nur noch alibimäßig christlich-religiös begründet zu sein. Gegen Juden öffentlich verbal aggressiv oder gar handgreiflich zu werden, scheint in gewissen Kreisen unserer Gesellschaft, vergleichbar aber auch in anderen Ländern und Kulturen, durchaus zum guten Ton zu gehören.

Zum anderen ist es aber auch so, dass natürlich auch hierzulande viele nicht mit den tagespolitischen Entscheidungen realer israelischer Politik zufrieden sind, vor allem, wenn es um Siedlungspolitik und die Palästinenserfrage geht. Zu diesen Unzufriedenen zähle ich mich durchaus auch.

So passt das heutige Evangelium vom Doppelgebot der Liebe auf diese Thematik wie wohl kein anderes, ist es doch ein Kristallisationspunkt christlichen Selbstverständnisses und Anspruchs auf der einen Seite, und auf der anderen Seite zeigt es, wie umfassend groß unser jüdisches Erbe wirklich ist, vor allem im Gottesbild oder - um es mit anderen Worten zu sagen - darin, wie groß die Gemeinsamkeit, wie wir Gott sehen, ist.

Der Begriff, der im heutigen Evangelium als der zentrale Begriff über allem steht und somit der zentrale Begriff christlichen Selbstverständnisses sein muss, ist der Begriff der Liebe. Liebender Glaube und liebender Umgang als Zentralbegriff des Christlichen!

Und so baut der Evangelist eine Lehrerzählung um diesen Begriff auf:

Ein Schriftgelehrter fragt Jesus: „Welches ist das höchste Gebot von allen? - Worum geht es also beim Glauben, was ist zentral?“ Jesus antwortet mit dem Jüdischen Glaubensbekenntnis, welches die bedingungslose Liebe zum einen und einzigen Gott zum Inhalt hat.

Diese Antwort Jesu wäre ohne sein Jude-Sein nicht denkbar. Jesus Christus hat aus meiner Perspektive keine neue Religion erfunden. Er steht zutiefst in der Glaubenstradition der Tora, der ersten fünf Bücher unserer Bibel, die in ihrem ersten Teil, dem sogenannten Alten Testament, ja die jüdische Bibel ausmacht. Jesus Christus steht für mich auch zutiefst in der Tradition der Propheten, auch dort geht es über weite Strecken um eine Humanisierung der Religion und die soziale Verantwortung, die aus ihr erwächst. So entspricht seine Antwort im Evangelium doch dem klassischen Glaubensbekenntnis eines frommen Juden.

Es ist für mich immer wieder verwunderlich, warum es, angesichts dieser geistig-geistlichen Nähe, scheinbar nicht gelingt, diesen Judenhass zu überwinden und ein geschwisterliches Verhältnis zu entwickeln.

Den Gründer des Christentums, wenn man denn den Jesus Christus der Bibel als Gründer sehen will, verstehe ich in erster Linie als einen Reformator der jüdischen Religion. Auf der inhaltlichen Agenda des Reformators Jesus stehen Verinnerlichung des Glaubens durch einen sehr persönlichen Gottesbezug und Humanisierung der Religion, durch eine Aufwertung des kleinen Menschen aufgrund seines Menschseins. Für Jesus zählt es nicht, ob man dem „richtigen Volk“ oder der richtigen Religion angehört, von daher verbietet sich aus der Jesustradition heraus jede Form von Hass aufgrund von Volkszugehörigkeit oder religiöser Zugehörigkeit.

Das erste und wichtigste der Antwort Jesu ist also die Liebe zu Gott, und das zweite, von dem Jesus sagt, dass es mit der Gottesliebe zusammen den Kern christlichen Glaubens bildet, die Liebe zum Nächsten als dem Menschen, der mir immer begegnet, egal, wer er oder sie ist, egal, wie viel oder wenig erfolgreich, attraktiv, liebenswert. Konkret zeigt sich diese Forderung Jesu darin, wie er zum Beispiel mit den Kindern umgeht. Sie, die in der Antike keinen Wert an sich haben, wertet er auf, indem er sie segnet. Ich denke auch an Zachäus, an die blutflüssige Frau, Maria Magdalena, die Frau von Bethanien und viele andere Personen am Weg Jesu.

Ich möchte an dieser Stelle nicht in christliche Selbstgerechtigkeit versinken, auch das Judentum hat sich selbst immer wieder reformiert und ist natürlich zuweilen wieder zurückgefallen in wenig humane Strukturen, so wie das Christentum auch, und es kennt menschlich humane Verantwortung des Glaubens, wie folgende Geschichte deutlich macht:

Ein Rabbi fragte seine Schüler, wann der Tag beginnen würde. Der erste fragte: „Beginnt der Tag, wenn ich von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“ – „Nein“, sagte der Rabbi. „Dann beginnt der Tag, wenn ich von weitem einen Dattelbaum von einem Feigenbaum unterscheiden kann“, sagte der zweite Schüler. Der erntete wieder ein Nein. „Aber wann beginnt der Tag?“, fragten die Schüler. Der Rabbi antwortete: „Der Tag beginnt, wenn Du in das Gesicht eines Menschen blickst und darin Deine Schwester oder Deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“

Auch aus dieser Geschichte kann ich eine Aufwertung des Menschen, des Gegenübers herauslesen.

Es wäre ungerecht und auch eine Form der Diskriminierung, würde man dem Judentum die soziale Verantwortung aus dem Glauben heraus absprechen.

Natürlich wäre zu sagen, dass Jesus diese Seite der Verantwortung und den liebenden, ich möchte an dieser Stelle vor allem sagen, den wertschätzenden Umgang auf die Spitze treibt und ihn radikalisiert, indem er selbst die Liebe zu den Feinden postuliert. Natürlich hat der christliche Begriff von der Liebe etwas Konsequentes beziehungsweise etwas Radikales, das hat immer wieder Menschen inspiriert, wie zum Beispiel den Heiligen Franziskus, der aus diesem Liebesbegriff heraus die Grenzen des Anstandes und dessen, was man tun darf, sprengt und sich zum Sultan nach Ägypten begibt und mitten im Kreuzzugsfieber seiner Zeit einen Gesprächspartner im Islam findet, den er durchaus zu schätzen gelernt hat, mehr als manchen fanatischen Christen. Die Faszination, die der fast grenzenlos wirkende Liebesbegriff begründet, den Jesus Christus uns vorgegeben und vorgelebt hat, hat weit über das Christentum hinaus Beachtung gefunden. So schreibt etwa der muslimische deutschsprachige Autor Navid Kermani in seinem 2016 erschienenen Buch „Ungläubiges Staunen über das Christentum“:

„Wenn ich etwas am Christentum bewundere, oder vielleicht sollte ich sagen: an den Christen, deren Glauben mich überzeugte, nämlich bezwang, aller Einwände beraubte, wenn ich nur einen Aspekt, eine Eigenschaft zum Vorbild nehme, zur Leitschnur, auch für mich, dann ist es nicht etwa die geliebte Kunst, nicht die Zivilisation mitsamt der Musik und Architektur (…) Es ist die spezifisch christliche Liebe, insofern sie sich nicht nur auf den Nächsten bezieht. In anderen Religionen wird ebenfalls geliebt, es wird zur Barmherzigkeit, zur Nachsicht, zur Mildtätigkeit angehalten. Aber die Liebe, die ich bei vielen Christen wahrnehme, geht über das Maß hinaus, auf das ein Mensch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe macht keinen Unterschied.“

Natürlich, und das macht dieses Statement von Navid Kermani deutlich: Diese Liebe muss gelebt werden, um Strahlkraft zu bekommen. Sie muss sich im Alltag beweisen, den Stresstest des alltäglichen Lebens bestehen, um nicht zur hohlen Worthülse zu verkommen.

Liebe Gemeinde, erlauben Sie mir einen letzten Gedanken zu diesem Evangelium, der uns etwas wegführt vom Verhältnis Judentum und Christentum. Eigentlich ist dieses doppelte Liebesgebot für mich ein dreifaches Liebesgebot, auch wenn diese dritte Seite der Liebe lange vernachlässigt wurde, auch wenn sie in den vergangenen Jahrhunderten auch bewusst verschwiegen und nicht thematisiert wurde, gerade auch in der helfenden Tradition des 19. Jahrhunderts, aus der die Diakonissenhäuser ebenso entstanden sind wie viele katholische Frauenorden. In allen Gemeinschaften stand das Dienen und die Nächstenliebe im Vordergrund, aber das Maß für die Nächstenliebe wird gewissermaßen begrenzt durch die Selbstliebe.

Ich darf mich als Mensch nicht aufgeben, sonst bin ich verloren. Das Ich und die Sorge für das eigene Ich wird zu einer Größe, die in ihrer Intensität dieser Nächstenliebe entsprechen muss. Das ist für heutige Menschen oft selbstverständlich, und da hat sich die Wahrnehmung mindestens in den letzten 50 Jahren deutlich geändert. Wenn ich immer wieder mit Menschen ins Gespräch komme, die zum Teil keinen christlichen Background mehr haben, so leuchtet ihnen das Doppelgebot der Liebe zumeist als sehr wertvoll ein, aber verstanden als ein Dreifachgebot, mit der Selbstliebe als dritte Größe. Ohne diese dritte Größe ist es meist nicht vermittelbar.

Das Dreifachgebot der Liebe, ich hoffe, Sie gestatten mir, es so zu nennen, es ist für mich ein Glaubensbekenntnis, ein zentraler Schatz des christlichen Glaubens.

Amen

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