Predigt vom Karfreitag, 19. April 2019

Predigt zu Johannes 16-30; Karfreitag, 19. April 2019, 9.30 Uhr; Neuendettelsau, St. Laurentius; Pfarrerin Karin Lefèvre

Liebe Gemeinde,

wir alle haben so unsere Vorstellungen von dem, was richtig und falsch ist, und das auch oder sogar besonders in Bezug auf gesellschaftliche und religiöse Überzeugungen. Vor allem dann, wenn uns diese schon ein Leben lang begleiten. Das ist mir erst vor kurzem auf eine sehr nachdenklich machende Weise vor Augen geführt worden.

Nämlich als eine junge Verwandte mit Anfang 20 fassungslos war, als sie hörte, dass es zu meiner Jugend und sogar noch in den ersten drei Lebensjahrzehnten keine Handys gegeben hat. Sie bestaunte mich wie einen Dinosaurier. Und völlig fassungslos war sie, als ich ihr erzählte, dass es damals außerdem Ehefrauen ohne die schriftliche Einwilligung des Ehemannes verboten gewesen war, einer bezahlten Arbeit nachzugehen. In der Tat hat sich unsere Welt wohl noch nie so schnell verändert wie in den paar zurückliegenden Jahrzehnten.

Warum ich das ausgerechnet heute so betone?

Weil auch die christlichen Vorstellungen und Überzeugungen darüber, weshalb Jesus am Kreuz gestorben ist, großen Wandlungen unterworfen waren. Ganz am Anfang der jungen Christenheit gab es noch viele verschiedene Erklärungen dafür, und die Glaubenden fanden das auch gut, weil sie noch verstanden, dass das "Geheimnis vom Kreuz", wie Paulus es nennt, nur in einer großen Vielfalt von Gedanken halbwegs erfasst werden kann.

Doch dann erfolgte im 4. Jahrhundert ein großer Einbruch, als der römische Kaiser aus der verbotenen christlichen Sekte zunächst eine erlaubte Religion und bald darauf sogar eine Staatsreligion machte. Die Zeit der blutigen Verfolgungen war vorüber, und eine neue große Gefahr, die viel schwerwiegendere und am Ende zerstörerische Kräfte entfaltete, war entstanden: Denn nun hatte der Kaiser das letzte Wort, wenn es innerhalb der Kirche zu Diskussionen und Auseinandersetzungen kam. Die Vielfalt der Gedanken war deshalb unpraktisch und hinderlich geworden und so war es nun mit der Zeit der vielen Deutungsmöglichkeiten vorbei. Übrig blieb nur eine: Der Kreuzestod Jesu wurde als der Preis betrachtet, den Jesus an den Teufel für die Sünden der Menschen zu entrichten hatte.

Diese eine Deutung war die Wesentliche bis kurz nach der ersten Jahrtausendwende. Danach setzte sich über die Dominikaner die Lehre des Anselm von Canterbury durch, die sich ganz grob so zusammenfassen lässt: Durch das Sterben Jesu am Kreuz wurde der eigentlich ablehnende und zornige Gott umgestimmt und öffnete die Tür zum Reich Gottes für die böse und gefallene Menschheit. Dieser Lehre haben sich später auch weitgehend die protestantischen Konfessionen angeschlossen.

Doch daneben hat sich immer auch eine kleine Minderheit behauptet, die der franziskanischen Bewegung eine andere Deutung gab, nämlich: Jesus hat Gott nicht umstimmen müssen, sondern er hat am Kreuz Gottes wahres Wesen der Liebe enthüllt. Denn Gott hat seine Schöpfung schon immer von Anfang an geliebt. Und der Gekreuzigte ist das Bild des unsichtbaren Gottes. (Vergleiche Kolosser und Epheserbrief)

Jesus ist Mensch und Gott – er hält beides in sich zusammen und versöhnt es miteinander. Und er lädt uns Menschen ein, an dieser Einheit teilzuhaben und uns mit Gott versöhnen zu lassen.

Liebe Gemeinde,

das war ein langer Ausflug in die Theologiegeschichte. Doch ist er nötig, weil wir dadurch die Worte des Johannesevangeliums, die auch in dieser Tradition stehen, richtig verstehen können.

16 Da gab Pilatus den führenden Priestern nach und befahl, Jesus zu kreuzigen. Die Soldaten übernahmen Jesus. 17 Er musste sein Kreuz selbst aus der Stadt hinaustragen, bis zu dem Ort, der "Schädel" genannt wird – auf Hebräisch heißt er Golgatha. 18 Dort nagelten sie Jesus ans Kreuz. Rechts und links von ihm wurden zwei andere Männer gekreuzigt. 19 Pilatus ließ ein Schild am Kreuz anbringen; darauf stand: "Jesus von Nazareth, der König der Juden". 20 Der Ort, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nicht weit von der Stadt entfernt, deshalb lasen viele die Aufschrift. Sie war in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache verfasst. 21 Die führenden Priester sagten zu Pilatus: "Schreib nicht, 'Der König der Juden', sondern: 'Dieser Mann hat behauptet: Ich bin der König der Juden.'"

22 Pilatus sagte: "Was ich geschrieben habe, bleibt stehen."

23 Nachdem die Soldaten Jesus ans Kreuz genagelt hatten, nahmen sie seine Kleider und teilten sie in vier Teile. Jeder erhielt ein Teil. Das Untergewand aber war in einem Stück gewebt und hatte keine Naht. 24 Die Soldaten sagten zueinander: "Wir wollen es nicht zerreißen, das Los soll entscheiden, wer es bekommt."

So traf ein, was in den heiligen Schriften vorausgesagt war: "Sie haben meine Kleider unter sich verteilt. Mein Gewand haben sie verlost." Genau das taten die Soldaten.

25 Nahe bei dem Kreuz, an dem Jesus hing, standen vier Frauen: seine Mutter, und deren Schwester sowie Maria, die Frau des Klopas und Maria aus Magdala. 26 Jesus sah seine Mutter dort stehen und daneben den Jünger, den er liebte.. 27 Da sagte er zu seiner Mutter: "Er ist jetzt dein Sohn!" Und zu dem Jünger sagte er: "Sie ist jetzt deine Mutter!" Von da an nahm der Jünger sie bei sich auf.

28 Jesus wusste, dass nun alles zu Ende gebracht war. Damit die Voraussage in den heiligen Schriften in Erfüllung ging, sagte er: "Ich habe Durst!". 29 In der Nähe stand ein Gefäß mit Essig. Die Soldaten tauchten einen Schwamm hinein, steckten ihn auf einen Ysop-Zweig und hielten ihn Jesus an die Lippen. 30 Er nahm davon und sagte: "Jetzt ist alles vollendet!". Dann neigte er den Kopf und starb.

Liebe Gemeinde,

haben Sie es bemerkt? So wie Johannes es uns aufgeschrieben hat, deckt es sich mit dem, was franziskanische Theologie ausmacht. Hier ist sie zu spüren, ja geradezu mit Händen zu greifen, diese unglaubliche Liebe Gottes! In keinem anderen Evangelium wird sie in solcher Dichte und Selbstverständlichkeit verkörpert - selbst noch am Kreuz. Johannes ist ja der Einzige, der davon weiß, wie Jesus hier für die Zukunft seiner Mutter und des geliebten Jüngers sorgt. Auch hier sprengt die Liebe Jesu alle Konventionen. Obwohl auch nur hier erzählt wird, dass eine Schwester der Mutter, also eine Tante Jesu, anwesend ist, und obwohl wir wissen, dass Jesus leibliche Geschwister hatte, die selbstverständlich für die Versorgung der Mutter zuständig waren, führt er diese und den geliebten Jünger zusammen:

Wer sich der Liebe Gottes in Jesus öffnet, für die oder den werden nun andere Grenzen gesetzt. Da gelten nicht länger Volkszugehörigkeit, nicht Familienbande, nicht Geschlecht, nicht Bildung, nicht sozialer Status oder was auch immer, sondern allein die Würde und die Freiheit, die aus der liebenden Verbundenheit mit Gott kommen.

Was wohl die anderen leiblichen Geschwister Jesu darüber gedacht haben? Gab es deshalb Unverständnis, Vorwürfe, oder haben alle verstanden, dass es bei Jesus um eine wunderbare Erweiterung aller Zusammengehörigkeit geht?

Kommen wir zurück auf die verschiedenen Deutungen des Kreuzestodes. Denn wenn wir alles aufeinander beziehen, dann wird es so richtig spannend. Denn ginge es nur um einen Kampf zwischen Gott und dem Teufel oder darum, ob es Jesus gelingt, einen zornigen, nach Blut verlangenden Gott umzustimmen, dann stünden wir lediglich dabei und müssten atemlos als bloße Zuschauer und Zuschauerinnen mitfiebern, wer gewinnt.

Doch Johannes will auf etwas ganz anderes hinaus: Jesus, der sich so ganz eins mit Gott weiß, dessen Willen und Handeln in allem Gottes Liebe widerspiegelt, der nimmt uns mit hinein in eine ganz andere Weltwirklichkeit. In Jesu Königreich geht es nicht darum, andere durch Macht, Einfluss oder gar Gewalt niederzuhalten. Sondern da geht es um liebende Fürsorge, die alle menschlichen Vorstellungen und Begrenzungen sprengt. Das letzte, was Jesus tut, und es heißt, dass er damit sein Werk in dieser Welt vollendet: Er führt seine Mutter und einen geliebten Jünger zusammen in eine innige Gemeinschaft. Und das ist die Antwort auf die Frage des Pilatus, für was für ein Königreich Jesus stehe! Ein Herrscher wie Pilatus lässt seine Soldaten für sich kämpfen. Doch bei Jesus tritt an diese Stelle eine liebevolle Fürsorge für eine Mutter, deren Herz zu brechen droht.

So werden wir bei Jesus aus unserer Zuschauerrolle befreit und bekommen eine große Aufgabe: Wir werden in einem besonderen Generationenvertrag aufeinander angewiesen: Da stehen wir nicht nur füreinander ein, sondern da nehmen wir einander an und auf!

Da zeigt sich die Tiefe der persönlichen Frömmigkeit in der Fähigkeit, die Liebe Jesu zu erwidern und weiter zu geben! Da entsteht eine ganz neue Form der Gemeinschaft. Und die wurde in den ersten Jahrhunderten sogar "Familia Christi" genannt.

Auch diese von Jesus selbst eingesetzte Ordnung wurde dadurch zerstört, dass das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion wurde unter einem Herrscher, der selbstverständlich die römische Gesellschaftsordnung über die christliche setzte, bzw. die christliche durch die römische Ordnung ersetzte.

Und so müssen wir uns heute fragen lassen: Erlauben wir dem gekreuzigten Jesus, uns seinen Weg der Fürsorge und Liebe zu weisen und uns so ein ganz anderes Königreich zu erschließen? Oder wollen wir doch lieber an dem, was unsere Welt zu bieten hat, festhalten und den Preis dafür zahlen, der immer und immer wieder auf Macht und Vergeltung und Gewalt setzt?

Der Blick auf das Kreuz will uns aus der Rolle der Zuschauer/innen herausholen und uns zu Menschen machen, die spüren: Ich bin geliebt; geliebt mit einer absolut verschwenderischen Liebe, und soll befreit werden, diese Liebe an andere weiterzugeben. Wir können einander annehmen und aufnehmen, wie Jesus es uns als sein allerletztes Vermächtnis ans Herz legt.

Amen

Und der Friede Gottes, welcher höher ist, als alles, was unsere Vernunft denken und sagen kann, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

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