1. Fastenpredigt am Sonntag Invokavit, 1. März 2020

Liebe Fastengemeinde!

„Ich möchte, dass meine Kinder ‚Gott lernen‘ – dann haben sie eine Zukunft.“

Selten hat mich ein Satz so berührt wie dieser. Er stammt aus einem kurzen Filmbeitrag. Gesprochen von einer Frau in Kenia: „Ich möchte, dass meine Kinder ‚Gott lernen‘ – dann haben sie eine Zukunft.“ Acht Kinder hat die alleinerziehende Mutter, sechs gehen in die Schule. Sie tut alles, dass das weiterhin möglich ist. (Gut übrigens, was man noch aus dem Filmbeitrag erfuhr: Er stammte von Brot für die Welt, das in Kenia landwirtschaftliche Initiativen unterstützt, die Frauen wie diese Frau und ihre Familie unterstützen. Gott lernen – und es gibt Zukunft!).

Wie unter einem Brennglas kann man in diesem kurzen Ausspruch sehen, wie Missions- und Entwicklungsarbeit mit Bildung, Bildungsförderung zusammengehören. Und dass Lebenshoffnung daraus erwächst! Eine Szene, gerade auch in Neuendettelsau gut zu hören. Denn hier ist das DIAKONEO mit Bildungs- und Förderungsprogrammen, ebenso wie das Missionswerk mit seinen weltweiten Perspektiven und die Theologische Hochschule mit ihrer theologischen Grundsatzarbeit.

„Ich möchte, dass meine Kinder ‚Gott lernen‘ – dann haben sie eine Zukunft.“

Die Frau meinte damit nicht den Religionsunterricht, nicht ihn allein jedenfalls. Sie meinte eine Ausbildung, die Berufs- und Lebens-Orientierung gibt, Verstandes- und Herzensbildung ermöglicht, Haltung in der Welt heute und die Hoffnung aufs zukünftige Gottesreich. Eine Bildung, die die Gesamtdimension des Lebens berührt. Eine Bildung, die um Anfang und Ende weiß, aber auch um die Mitte, um das Heute und dessen Zukunft.

Die kenianische Frau hat in ihrer Sprache und mit Blick auf ihre Situation zusammengefasst, was schon Erkenntnis des biblischen Psalmbeters ist (Psalm 110,10a):

„Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.“

Zwei Worte, eine starke Botschaft: Der Anfang, die Quelle aller Weisheit, ist die Gottesfurcht. Und nur im Gott-Lernen ist Zukunft. Für mich eine Herzensbotschaft. Darum war mir gleich klar: „weil wir das Leben lieben“ – dieser Satz soll ergänzt werden durch das Thema Bildung. „Bildung fördern – weil wir das Leben lieben.“

Wenn wir „Bildung fördern – weil wir das Leben lieben!“, dann muss es eine Bildung sein, die das Leben auch wirklich fördert. Ausbildung ist uns wichtig, wir fördern und würdigen sie. Im Diakoneo hier in Neuendettelsau, Schwäbisch Hall und an den anderen Orten wird auf eine gute Fachausbildung zu Recht höchster Wert gelegt.

Alles umfasst aber die Bildung, die Herzensbildung, die Lebensbildung, die Menschen nicht nur zu Fachexpertinnen und -experten macht, sondern ihnen zum ganzen Leben hilft. Ihr Herz weitet. Ihnen hilft, Menschen zu sein, die in dieser Welt Berufung, Beziehung, Sinn und Zukunft finden. Weisheit heißt dann nicht nur, etwas zu können und zu wissen, sondern zu verstehen, was man mit dem eigenen Leben, Tun und Wissen soll in dieser Welt. Wo man hingehört im großen Gesamtzusammenhang. Welchen Sinn man für sich findet, welcher Auftrag unserem persönlichen Leben gegeben ist – von unserem Schöpfer her, der uns auch Gaben gegeben hat:

„Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.“

Doch wie sieht eine solche Bildung zur Weisheit, solche Bildungsweisheit aus?

Sie hier können viel davon erzählen, wie Ausbildung und Herzensbildung sich in der Diakonie zeigt, wie sie Menschen hilft, Sinn zu finden und zu leben! Ich selbst habe in den Jahren in der Diakonie viel davon gelernt: Im Geduld-Leben mit Menschen mit Behinderung. Im Hinhören auf Ideen junger Menschen. Im anerkennenden Staunen über die Verbindung von Fachexpertise und Anteilnahme, Herzenswärme bei Ärztinnen und Ärzten, Schwestern und Pflegern.

„Bildung fördern – weil wir das Leben lieben“ – das kommt in diesen Erfahrungen des täglichen Lebens zum Ausdruck. Ja, was in der Diakonie getan wird, wie sie sich herausbildet, wie sie Ausbildung und Bildung unterstützt, auf das Leben. Aus gutem, tiefem Grund.

Wenn der Psalmbeter und die Frau aus Kenia an Bildung denken, dann hat Bildung und Weisheit für sie eine wichtige Dimension:

„Die Furcht des Herrn ist aller Weisheit Anfang…“

Am Anfang der Bildung steht für den Psalmbeter eine lebendige Beziehung. Umfassende Bildung beginnt für ihn dort, wo der Mensch versteht, dass jemand „Du“ zu ihm sagt. Und auf dem Weg der Weisheit ist der, der versteht, dass sein ganzes Leben eine Antwort auf dieses große Du Gottes ist. Wo wir in Beziehung mit Gott anfangen, da werden wir hineingezogen in einen großen Dialog, eine Entdeckungsgeschichte, ja, ein Bildungsgeschehen: Wer bin ich? Was trägt mein Leben? Wie entsteht Zukunft? Wofür will ich mich einsetzen? Was will das Leben von mir? Lebensfragen, Glaubensfragen, Bildungsfragen. Wir stellen sie uns in der Fastenzeit wieder neu.

Weisheit beginnt für Menschen des Glaubens mit der Einsicht, dass ihnen Freiheit geschenkt ist und sie gleichzeitig gerufen sind, diese Freiheit in Beziehung zu stellen zur Welt, zu der Gott als seiner geliebten Schöpfung sein großes Ja gesprochen hat.

„Gott lernen“, das heißt, diesen Blick Gottes einzuüben, in sein Ja zur Welt einzustimmen!

In einem Buch über Pädagogik habe ich neulich den Grundsatz [Humberto Maturana, bei Schulz von Thun] gelesen: Schülerinnen und Schüler lernen eigentlich nicht etwas „von“ ihrem Lehrer, ihrer Lehrerin. Schülerinnen lernen „ihren Lehrer, ihre Lehrerin“, Kinder lernen ihre Eltern! Ein Kind wird zu dem Menschen, mit dem es zusammenlebt. Bildung entsteht so mehr beiläufig. Das Kind übernimmt die Werte, das Verhalten, den Charakter, den es vor sich sieht.

Für Christinnen und Christen ist es nicht anders. Darum sehen wir, wenn wir „Gott lernen“ wollen, auf das Leben Jesu. Wir suchen die Nähe Gottes in seinem Wort, feiern sie in unseren Gemeinden, in der Diakonie, pflegen Gemeinschaft, halten das Mahl miteinander, lassen uns segnen im Gedenken an unsere Taufe. Und wir lernen verstehen: „Gott lernen“, das heißt: den lernen, der „unser Friede“ ist (Epheser 2,14). Gott-Lernen ist das Suchen, das Streben nach dem Frieden, welcher „höher ist denn als all unsere Vernunft“. „Gott lernen“ heißt lernen, was Gerechtigkeit heißt. Sich zu begeben auf den Weg der Gerechtigkeit und des Friedens für die ganze Schöpfung, den Jesus Christus als unser Lehrer gegangen ist.

Ja, Gott lernen, das wollen wir als getaufte Christinnen und Christen in der Nachfolge Jesu - damit wir leben können und die ganze Erde Zukunft hat. Damit die Menschlichkeit Zukunft hat. Wir wollen lernen, wie Gottes Liebe in Jesus Christus Gerechtigkeit hervorbringt, Versöhnung, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Lernen, was die Bibel uns erzählt von Buße und Umkehr, von Erbarmen, Barmherzigkeit. Wir wollen uns bilden, was das für unser Leben jeweils heißt, wie alles zusammenhängt.

Die Welt zu verstehen und darin Gottes Wirken, darin Gerechtigkeit, Liebe, Bewahrung der Schöpfung zu suchen: Manche finden das wohl blauäugig und nennen es „gutmenschenhaft“. Machen sich lustig über Menschen, die nach dieser Art von Bildung streben. Verbreiten stattdessen eine destruktive, populistische, lebensfeindliche Anti-Bildung oder ziehen andere hinein in fatales Desinteresse, in das Disengagement. Sie interessieren sich nicht dafür, ob die Welt klimatisch der Hölle entgegengeht, weil sie auf nichts verzichten wollen. Sie fragen nicht, warum die Migrationsbewegungen zunehmen, erkennen den Grund nicht darin, dass auch unsere Waffenexporte Menschen in Tod und Elend treiben. Meinen: Da kann man doch nichts machen. Ich lebe jetzt und denke nicht an später.

Die Frau aus Kenia, die selbst - viel mehr als die meisten von uns - mit viel Unrecht, Leid und Schwierigkeiten konfrontiert ist, ist dagegen Anwältin einer Bildung, die Leben schafft, einer Bildung, die widerständig ist und widerständig macht gegen jede Resignation oder Fatalismus. „Ich möchte, dass meine Kinder Gott lernen, dann haben sie eine Zukunft.“ Diese Verbindung ist für sie gewiss.

Und sie hat recht. Die Grundworte unseres Glaubens sind darum - genau betrachtet - Bildungsworte, Entwicklungsbegriffe. Der Dreischritt der Herzensbildung ist: Glauben, Lieben, Hoffen. Ein dreifaches Offenwerden, In-die-Welt- und Vorwärtsschreiten: in die Gottesbeziehung, die Beziehung mit den Menschen, in die Verantwortung für die Zukunft. Glauben, Lieben, Hoffen sind Richtungswörter, Veränderungs-Wörter, Erneuerungs-Wörter. Glaube bleibt nicht stehen beim Weiter-So der Welt. Glaube verändert uns selbst. Durch Glauben, Hoffen und Lieben werden zunächst wir herzensgebildet, -geformt, -verändert, damit wir neu sehen, neu denken, neu handeln lernen. Und so verändert sich unsere Welt. Das ist der tiefe (und heiligste) Sinn von „Bildung“.

Darum sind Glaube und Bildung so eng verwandt. Darum wollen wir „Bildung fördern - weil wir das Leben lieben“. Glaube und Bildung denken wir zusammen. Die Reformation, deren 500-jähriges Jubiläum wir 2017 gefeiert haben, war und ist eine Bildungsbewegung. Ihr Ziel war die Bildung, die den ganzen Menschen erneuert: vom Schuldgefühl zur tätigen Verantwortung. Von der Abhängigkeit von der Meinung und dem Urteil anderer zur Freiheit eines Christenmenschen. Von der Selbstbezogenheit zur Bezogenheit auf die Welt, auf Mitmenschen und Umwelt. Reformatorische Bildung heißt eben: Herzensbildung. Die Bildung des Herzens gemäß dem Bild, nach dem wir geschaffen sind – das ist der weite Bildungsbegriff der evangelischen Kirche. Bildung gehört zur DNA des Glaubens und der Kirche, ist ihre „innere Gestaltungsachse“.

Ja, Bildung ist Teil unserer Tradition. Seit der Reformation, aber auch danach. Der Pietismus hat die hohe Wertschätzung der Bildung weiter vertieft. Aus der praxis pietatis entsprang eine Bildungs-, eine Lesekultur. Ein Historiker (Hans Medick[1]) hat sich mit der Frage des Bücherbesitzes im 18. Jahrhunderts beschäftigt. Er untersuchte beispielhaft das Dorf Laichingen auf der Schwäbischen Alb. Im 18. Jahrhundert war in Laichingen nur 1 % aller Haushalte bücherlos! Damit liegt der Buchbesitz mit durchschnittlich zehn, später 14 Büchern pro Haushalt in Laichingen auf der Schwäbischen Alb höher als der in der Universitätsstadt Tübingen – und auch höher als der im mondänen Paris.

„Bildung fördern – weil wir das Leben lieben!“ Das gilt für die Kirche. Das gilt natürlich auch für die Diakonie. Sie ist ein zentraler Herzensbildungsort in unserer Kirche. Hier wird gelebt, hier wird verinnerlicht, was wir verstehen vom „Gottlernen“: die Art, wie Gott auf jeden Menschen schaut und achtet, voll Liebe und Würdigung. Die Art, wie Gott diese Welt liebt, ihr gute Zukunft verheißt, weil er der Freund, die Freundin des Lebens ist.

Und so kommt alles zusammen: „Bildung fördern – weil wir das Leben lieben“. Das ist der Kernauftrag unseres Glaubens. Gott lernen, das ist der Grund unseres Lebens. Den Herrn fürchten, das ist wahrlich aller Weisheit Anfang. Weil wir das Leben lieben. Amen.



[1] Hans Medick, Buchkultur und lutherischer Pietismus. Buchbesitz, erbauliche Lektüre und religiöse Mentalität in einer ländlichen Gemeinde Württembergs am Ende der frühen Neuzeit: Laichingen 1748-1820. In: Frühe Neuzeit - frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 104). Hg. v. Rudolf Vierhaus u.a., Göttingen 1992, 297-326.

Mehr lesen aus dem Magazin zum Thema Spiritualität

Diesen Artikel teilen

Haben Sie Fragen? Wir helfen Ihnen gerne.

Wenn Sie sich näher über unser Angebot informieren möchten, können Sie gerne Ihre
bevorzugte Kontaktmöglichkeit hinterlassen.

Oder rufen Sie uns an unter unserer Service-Nummer:

+49 180 2823456 (6 Cent pro Gespräch)