Alice Staudacher-Voit: "Was ich im Leben brauche, ist eine Schere."
Seit 2023 lebt Alice Staudacher-Voit im Diakoneo Seniorenzentrum Rothenburg ob der Tauber. Mit ihrer Scherenschnittkunst ist sie weit über die Stadt hinaus bekannt.
Am „Tag der Hundertjährigen“ möchten wir sie und ihre besondere Lebenserfahrung würdigen. Wir besuchten sie daher zu einem Gespräch und trafen auf eine lebendige, lebensfrohe, hochbetagte Frau, die mit uns ihre Erinnerungen teilte.
Von Manuela Renner (Videos und Fotos) und Alexandra Weniger (Text)
Darum geht es in dem Artikel:
- Krieg und Vertreibung: 300 Kilometer mit dem Fahrrad nach Rothenburg
- Unterwegs auf Schleichwegen
- Eine neue Heimat in Rothenburg ob der Tauber
- Unterkunft im Staudt´schen Haus
- Ehe mit dem Mundart-Dichter Wilhelm Staudacher
- Verbunden durch die Leidenschaft für die Kunst
- Plötzlicher Tod des Ehemannes
- Lebenswille ist ungebrochen
- Geistig fit und rege
- "Langeweile habe ich nicht"
Schon beim Betreten ihres Zimmers im Seniorenzentrum, fallen uns ihre unglaublichen Kunstwerke ins Auge. Gerahmte Bilder mit großen, vielfach verzweigten und filigranen Scherenschnitten hängen an der Wand. Im Regal ein paar Familienfotos. Darunter ein Gemälde, das ihre ursprüngliche Heimat Eger zeigt.
Alice Staudacher-Voit sitzt am Tisch. Vor ihr einige kleine Kärtchen, ebenfalls mit ihrer Schnittkunst verziert. Daneben eine kleine Nagelschere, Papiere, ein Kleber.
„Ein bisschen aufgeregt sei sie…“, verrät sie uns. „Und was wir denn mit den Sachen machen?“. Einen Artikel für unser Online-Magazin. Ja im Internet, da war sie schon, berichtet sie. Auch der Bayerische Rundfunk hat sie damals zu ihrem 100. Geburtstag interviewt, denn ihre Kunstwerke und ihr Name sind vielen Rothenburgern ein Begriff.
Krieg und Vertreibung: 300 Kilometer mit dem Fahrrad nach Rothenburg
Doch eigentlich ist die 101-jährige im Schlaggenwald geboren und im Egerland aufgewachsen. Die Großeltern hatten eine Bäckerei in Eger und ihre Mutter half im Verkauf. Ihr Vater, Fritz Voit, war Kunde und zwischen ihm und der jungen Verkäuferin entwickelte sich eine Freundschaft.
Ihre Eltern heirateten und weil der Vater im Schlaggenwald berufstätig war, gingen sie zunächst dorthin zurück. Alice Staudacher-Voit wurde als einziges Kind ihrer Eltern in der alten Bergbaustadt geboren. Doch die Mutter hatte stets Sehnsucht nach ihrer Heimat und ihrer Familie, sodass sie zum Schulbeginn ihrer Tochter wieder nach Eger gingen. „Direkt am Marktplatz wohnten wir“, erinnert sich Frau Staudacher-Voit. „Vom dritten Stock aus konnten wir das bunte Treiben immer gut beobachten.“
Dann kam der Krieg und mit 18 Jahren wurde Alice Staudacher-Voit zum Reichsarbeitsdienst verpflichtet. Sie ist als Führerin bis zum Kriegsende dabeigeblieben. 1940 kam sie zum ersten Mal nach Rothenburg und hatte gleich eine gewisse Verbundenheit gespürt.
„Denn es gibt sehr viele Ähnlichkeiten zwischen Eger und Rothenburg“, erklärt sie. Unterhalb ihrer Heimatstadt verlief die Eger, in Rothenburg die Tauber. „Und einen schönen Marktplatz mit Brunnen haben auch beide Städte“. Mit Kriegsende 1945 ging sie zurück nach Eger, doch sie sollte schon bald durch die Tschechen ausgewiesen werden. Sie berichtet von vielen Freundinnen, die mit Lastwägen fortgebracht und irgendwo ausgeladen wurden. Das wollte sie nicht.
So fuhr die damals 23-jährige 300 km mit dem Fahrrad nach Rothenburg. Eigentlich galt dort eine Zuzugsperre, doch da sie schon einmal in der Stadt gemeldet war, hatte sie Glück und bekam einen deutsch-englischen Schein „Rothenburg-Eger“. Mit diesem Dokument konnte sie über die Grenze gelangen. „Die Tschechen wussten nichts damit anzufangen“, schmunzelt sie.
Alice Staudacher-Voit im Interview: Über Rothenburg und Eger
Ihre ursprüngliche Heimat Eger und ihre Wahlheimat Rothenburg haben für Alice Staudacher-Voit viele Ähnlichkeiten:
Alice Staudacher-Voit im Interview: 300 Kilometer auf Schleichwegen
Während des Krieges leistete Alice Staudacher-Voit ihren Arbeitsdienst in Rothenburg. Bei der Ausweisung aus Tschechien hatte sie ein Ziel fest im Auge:
Eine neue Heimat in Rothenburg ob der Tauber
Ein Jahr später konnte sie auch ihre Mutter nach Rothenburg holen. Der Vater war bereits 1936 verstorben. Im Gasthaus am Rödertor hatten sie ein kleines Zimmer. Wenn die Gäste fort waren, durfte sie in der Gaststube Scherenschnitte anfertigen.
Am Grünen Markt gab es ein kleines Geschäft. Die Inhaberin war interessiert an Scherenschnitten und verkaufte ihre Karten. Hauptsächlich an Amerikaner. Und so baute sich die junge Frau einen kleinen Nebenerwerb auf, um Geld zum Leben zu bekommen.
Richtige Auftragsarbeiten wurden zum Teil daraus: Auf Wunsch der Käufer schnitt sie auch Kutschen in die Ansichten von Rothenburg und alles „was amerikanisch ausschaut“, amüsiert sie sich.
Alice Staudacher-Voit im Interview: Scherenschnitt als Nebenverdienst
Alice Staudacher-Voit lernte den Scherenschnitt von ihrem Vater und während der Nachkriegsjahre konnte sie sich mit ihrer Kunst etwas dazuverdienen:
Unterkunft im Staudt´schen Haus
Später erhielt Alice Staudacher-Voit mit ihrer Mutter im sogenannten Staudt‘schen Haus – einem alten Patrizierhaus, das seit Jahrhunderten von der Familie von Staudt bewohnt wurde – ein schönes Zimmer. Eine Bekannte, die dort als Bedienung und Köchin arbeitete, hatte es ihr vermittelt.
Irmgard von Staudt schenkte ihr einen Tennisschläger. Früher schon hatte sie Tennis gespielt. Auf dem Tennisplatz nahm das Schicksal dann seinen Lauf:
Beim Tennisspielen ermutigte sie ein Mitspieler, sich bei der Stadtverwaltung zu bewerben. Sie hatte Glück und bekam die Stelle am Schalter für Steuereinnahmen.
Alice Staudacher-Voit im Interview: Ein Tennisschläger spielt Schicksal
Ein Tennisschläger verhalf Alice Staudacher-Voit zu ihrer Arbeit bei der Stadtverwaltung:
Ehe mit dem Mundart-Dichter Wilhelm Staudacher
Mit ihr im gleichen Raum bei der Stadtverwaltung war ein junger Mann, der sie immer unterstützte. Denn sie war ja, wie sie sagt, eine Geflüchtete und diese waren oft nicht gern gesehen.
Der junge Mann war der Mundart-Dichter und spätere Stadtkämmerer Wilhelm Staudacher. Ihn hat Alice Staudacher-Voit 1952 geheiratet. 1953 und 1955 folgten die beiden Söhne Wolfram und Frank. Die Stadt wies ihnen ein Grundstück zu und sie konnten 1957 ein Haus bauen.
Immer wieder lacht Frau Staudacher-Voit. Es ist ein fröhliches, ein erstauntes Lachen. Als könnte sie es manchmal selbst nicht glauben, wie in ihrem Leben gar zufällig eines zum anderen kam und sich alles fügte.
„Ich war ja Einzelkind und dachte, ich gehe mal ins Kloster, da bin ich auch nicht allein“, sagt sie. „Aber es ist alles in guten Bahnen gelaufen.“
Alice Staudacher-Voit im Interview: Liebe am Arbeitsplatz
Neben der Arbeit bei der Stadtverwaltung fand Alice Staudacher-Voit dort auch ihre große Liebe:
Verbunden durch die Leidenschaft für die Kunst
Mit ihrem Mann verband sie eine besondere künstlerische Leidenschaft. Er dichtete und sie illustrierte seine Bücher mit ihren Scherenschnitten. 1951 erschien die erste Veröffentlichung – ein Märchenbuch, das sie uns stolz zeigt.
Es folgten noch viele mehr. „Das war wunderschön“, sagt sie über diese Zeit. Sie war darüber hinaus im Künstlerbund aktiv und mit ihren zahlreichen Scherenschnitten durfte sie sogar bei der Frankfurter Messe ausstellen.
Auch bei der Weihnachtsausstellung in Kiel konnte sie ihre Kunstwerke zeigen.
Alice Staudacher-Voit im Interview: Eine wunderschöne Zeit
Alice Staudacher-Voit empfand den künstlerischen Austausch mit ihrem Mann als wunderschön:
Plötzlicher Tod des Ehemannes
Dann wird sie auf einmal sehr ernst, sehr nachdenklich. Ihren Mann hat sie ganz plötzlich im Jahr 1995 verloren. Er war Stadtkämmerer. Nach dem großen Unwetter starb er, wie sie sagt „vor lauter Aufregung“ an akutem Herzversagen.
Er war schon kurz in Rente, aber er wusste, die Stadt hat keine ausreichende Versicherung. Mit seiner Enkeltochter ging er noch die Straße auf und ab und sah sich die Schäden an. Dann stürzte er vor seinem Garten. Es war Sonntag, der Rettungsdienst kam nicht schnell genug, im Krankenhaus konnte man ihm nicht mehr helfen.
Lebenswille ist ungebrochen
Seit 1995 lebt Alice Staudacher-Voit allein. Als sie mit 100 Jahren nach einigen Stürzen nicht mehr ohne Hilfe im Haus bleiben konnte, zog sie ins Seniorenzentrum Rothenburg. Zunächst belegte sie mit einer anderen Bewohnerin ein Doppelzimmer. Dann, vor einem dreiviertel Jahr, erhielt sie das Einzelzimmer.
„Ich wollte immer einschlafen, mit 101 Jahren ist man doch alt genug“, meint sie. „Einschlafen und morgens einfach nicht mehr aufwachen.“ Doch dann blitzen ihre Augen wieder auf und sie lacht verschmitzt: „Jetzt habe ich so ein schönes Zimmer, jetzt möchte ich noch ein bisschen dableiben.“
Alice Staudacher-Voit im Interview: Ich möchte noch ein bisschen dableiben.
Ihr schönes Zimmer im Seniorenzentrum Rothenburg möchte Alice Staudacher-Voit noch lange genießen können:
Geistig fit und rege
„Was ich im Leben brauche, das ist eine Schere, die muss ich immer bei mir haben“, erzählt sie uns. Mit ihrem Vater hatte sie schon damals als Kind aus Zeitungspapier Figuren geschnitten. Ihr Sohn versorgt sie heute mit Karten, neuem Klebstoff und was man so noch zum Basteln braucht.
Auch eine ganze Rolle Einbandpapier, das sie zuschneidet und zu kleinen Kärtchen verarbeitet. Sogar ihre Schneidemaschine hat sie in ihrem Zimmer.
„Geistig bin ich noch fit“, sagt sie stolz und sie beginnt Gedichte zu rezitieren. „Vom Apfel“ und „Der Mond ist aufgegangen“. „Wenn ich im Bett liege, sage ich mir mein Abendgedicht und schlafe dann gut ein. So lange ich da nicht hängen bleibe, da geht’s mir noch ganz gut.“, sagt sie fröhlich.
Später spielt sie noch „Wörter finden“ mit dem Würfelbecher. Und auch ihre Freundin aus dem Seniorenzentrum kommt heute noch für eine Runde Canasta zu ihr ins Zimmer.
"Langeweile habe ich nicht"
„Langeweile habe ich nicht, weil ich dann immer wieder zum Schneiden anfange“, versichert sie. Und dann schneidet sie uns als Abschiedsgeschenk aus dem Scherenschnittpapier ohne Vorlage mit ihrer kleinen Schere ein filigranes Bäumchen, auf dem zwei Vögelchen sitzen.
Wir sollen doch wieder einmal vorbeikommen, lädt sie uns ein. Das machen wir gerne – vielleicht zu ihrem 102. Geburtstag, den sie so Gott will am 7. November feiern darf.