Wie lernen Menschen mit schweren Behinderungen?

Lebenslanges Lernen bei Menschen mit Behinderung: ein Beispiel aus der Förderstätte Obernzenn


Die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) der Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) in Bayern veröffentlichte 2019 ein neues Rahmenkonzept für die Teilhabeleistung „Bildung & Arbeit“ in Förderstätten. Auch Diakoneo war an der Erstellung des Konzeptes beteiligt. 
Ziel ist es, Ergänzungen zu bereits bestehenden und bewährten Konzepten der Förderstätten zu entwickeln und auf diese Weise das Lebenslange Lernen für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf zu fördern.
Diakoneo versteht Bildung als Teil einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung und Lebenslanges Lernen als wichtigen Bestandteil der Teilhabe am Arbeitsleben.



Ulrike Englmann hat die Förderstätte in Obernzenn besucht und die Beschäftigten bei ihrer Arbeit begleitet. Ruth Eisen-Klagges, der Leiterin der Förderstätten Rothenburg / Obernzenn erklärt, wie das Rahmenkonzept dort praktisch umgesetzt wird. Die Mitarbeitenden in der Förderstätte unterstützen die Beschäftigen beispielsweise beim Anfertigen von Meisenknödeln.
Das Konzept ist nämlich als „Baukasten“ gedacht, das von jeder Förderstätte an individuell an die jeweiligen Rahmenbedingungen angepasst werden kann.


Bildungsarbeit in der Förderstätte
Beschäftigte der Förderstätte Obernzenn bei der Fertigung von Meisenknödeln. © Ulrike Englmann



Modulares Lernen in der Förderstätte: Beispiel Meisenknödel

Im Werkraum der Förderstätte in Obernzenn ist alles bestens vorbereitet. Auf dem Tisch in dem hellen großen Raum findet sich alles, was die drei Beschäftigten der Förderstätte Obernzenn, Selina Waligura, Nicole Kraft und Katharina Feser für die Fertigung der Meisenknödel benötigen, ein Projekt, das sich aufgrund der Zerlegbarkeit in Einzelmodule gut ganzjährig durchführen lässt. Eine große Glasschale steht bereit, um die verschiedenen duftenden Zutaten für die Meisenknödel aufzunehmen: Sonnenblumenkerne, gehackte Haselnüsse, Haferflocken, Rosinen, Hirse und geschmolzenes Pflanzenfett. Die Arbeit ist in einzelne Module aufgeteilt, in denen die Beschäftigten bestimmte Fähigkeiten erwerben können, z. B. das Benutzen des großen Rührlöffels, an dessen Ende ein dicker Schaumstoffgriff angebracht ist, damit er besser in der Hand liegt.

Die Vorfreude auf das gemeinsame Lernen ist den Dreien anzumerken. Jede von ihnen wird von einer Mitarbeiterin der Förderstätte begleitet und unterstützt. Das schafft Sicherheit. Die Intention des Konzepts lässt sich an der Herstellung der Meisenknödel sehr gut veranschaulichen. Erlernt werden kann hier unter anderem die Fähigkeit, ein bestimmtes Material in ein Gefäß zu schütten. Da sich die Meisenknödel aus unterschiedlichen Materialien ähnlicher Beschaffenheit zusammensetzen, kann jede in der Runde den Schüttvorgang üben. Zunächst ist Selina an der Reihe. Sie schüttet die Sonnenblumenkerne in die Schale. Gar nicht so einfach. Aber was daneben geht, wird sorgfältig aufgesammelt. Dann kommt Katharina. Die Schüssel vor sich, gibt sie gemeinsam mit Claudia Hildenstein vom Fachdienst, die gehackten Haselnüsse dazu. Katharina ist die Freude anzumerken, sie strahlt über das ganze Gesicht. Schließlich gibt Nicole die Rosinen dazu. Zuletzt folgt das geschmolzene Fett.

Bildung und Arbeit in der Förderstätte Obernzenn
Die Masse für die Meisenknödel wird verrührt

Materialkunde ist Teil des Lernkonzeptes

Zum Konzept gehört es außerdem, die verwendeten Materialen zu erkunden. Nüsse, Rosinen und Haferflocken können mit allen Sinnen erfasst werden. Wie fühlen sich die unterschiedlichen Zutaten an? Wie riechen sie? Wie lassen sie sich verarbeiten? Der entsprechende Part im Konzept nennt sich „Materialkunde“. Alle Beschäftigten kommen mit den unterschiedlichen Materialien in Kontakt. Jetzt muss gerührt werden. Dabei ist Schnelligkeit angesagt, sonst saugen die Haferflocken das Fett auf. Als Rührgerät kommt besagter Löffel zum Einsatz. Jede Beschäftigte erlernt dabei den Umgang mit dem Löffel, die Bewegungen und die Kraftaufwendung, die zum Verrühren einer dicken Masse nötig sind.

Anschließend wird die fertige Masse in die bereitstehenden Förmchen und Pappbecher gefüllt. Jede Beschäftigte übt den Vorgang des Abfüllens einer Masse in kleine Gefäße. Danach kommen die Gefäße in den Kühlschrank. Nach dem Kühlen können die Meisenknödel aus den Förmchen genommen werden. Jetzt können kleine Löcher hindurchgebohrt und ein Bindfaden durchgezogen werden. Auch hier kann am Beispiel Meisenknödel eine übergreifende Fähigkeit erworben werden: das Bearbeiten der Masse und der Umgang mit einem Faden.

Was bedeutet die neue Rahmenkonzeption für die Förderstätte?

Ruth Eisen-Klagges

Wir arbeiten in unseren Förderstätten ja schon immer mit Formen des Lebenslangen Lernens und fördern die Menschen die zu uns kommen in einer ganz individuellen Weise.

Neu ist jetzt, dass der Bereich „Bildung & Arbeit“ als Teilbereich aufgewertet wird und wir ihn entsprechend ausbauen und modular gestalten können. Auf diese Weise wird unsere Arbeit zur echten Bildungsarbeit. Das bewirkt sowohl bei uns Mitarbeitenden, aber vor allem auch bei den Beschäftigten ein neues Selbstverständnis und ein Gefühl von Wertigkeit.

Wie sind die Bildungsmodule aufgebaut?

Ruth Eisen-Klagges: Das Konzept ist ja gerade erst im Entstehen, das heißt, wir gestalten die Bildungsmodule hier in der Einrichtung selbst und stellen sie dann anderen Einrichtungen innerhalb von Diakoneo zur Verfügung. Die Module beinhalten die Bereiche Materialerfahrung, Materialkunde, Werkzeugkunde und Herstellen von Produkten. Der Herstellungsprozess wird also erst in der Theorie vorbereitet, Fotos werden erstellt und der gesamte Ablauf dokumentiert. Die Ideen zu den Themen, also in diesem Fall die Herstellung von Meisenködeln, werden in der Gruppe entwickelt.

Moderne Medien in der Förderstätte
Berufliche Bildung in der Förderstätte nutzt moderne Medien

Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Lernen


Letztlich kommt es aber nicht auf das fertige Produkt an, sondern auf die Ausarbeitung der Lerneinheiten innerhalb der Module. Diese sollen so gestaltet werden, dass jede Beschäftigte beispielsweise das Schütten von Material, oder die Handhabung eines Löffels oder das Wischen auf dem iPad erlernen kann. Diese Kompetenzen lassen sich dann auf andere Prozesse übertragen.

Ruth Eisen-Klagges:

Bildung und Arbeit werden in den Förderstätten künftig noch besser verzahnt werden

Bevor die Beschäftigten mit einem Projekt oder einer Arbeit beginnen, sind sie bereits in einen Lernprozess eingebunden. Am Beispiel der Meisenknödel kann ich das gut erläutern. Zunächst einmal geht es nämlich nicht um die Knödel, sondern darum, das Material kennenzulernen, mit dem man arbeitet. Es geht ganz konkret ums Anfassen, Riechen, Hören, eben darum, das Material mit den Sinnen zu erfassen. Dies geschieht natürlich mit der entsprechenden Assistenz und Unterstützung. Hinzu kommt das Kennenlernen der Werkzeuge, die man für den Herstellungsprozess braucht. Bei den Meisenknödeln bedeutet das, dass die Herstellung der Knödel auch weitergehend eingebunden ist in ein Gesamtverständnis. Die Beschäftigten lernen, welche Vogelarten es im Winter in unserer Region gibt, was sie fressen und wie man sie am besten unterstützen kann – eben beispielsweise indem man Knödel fertigt und sie aufhängt.

Welche Mittel nutzen Sie für die Bildungsarbeit?

Ruth Eisen-Klagges: Wir haben viele Arbeitsschritte fotografiert. Auch von den heimischen Vögeln haben wir Fotos beschafft – so lernen die Beschäftigten die Vogelarten kennen. In der Gruppe, im Morgenkreis oder auch in der Einzelarbeit werden dann die Arbeitsschritte erklärt und gelernt. Durch die Einbindung in den Hintergrund „Vögel haben im Winter Hunger und man kann sie bei der Nahrungssuche unterstützen“ finden die Beschäftigten einen größeren Sinnzusammenhang für ihre Arbeit.

Und wenn die Knödel fertig sind?

Ruth Eisen-Klagges: Sind die Knödel fertiggestellt, werden sie nicht einfach nach draußen gebracht, sondern die Beschäftigten können sie selbst verkaufen, z. B. an andere Bewohnerinnen und Bewohner oder wir nehmen sie auf den Weihnachtsmarkt mit und verkaufen sie dort. Auf diese Weise erhalten die Beschäftigten eine ganz neue Wertschätzung ihrer Tätigkeit. Das wirkt auf sie zurück. Sie wissen was sie können, werden selbstbewusster und können sich selbst besser helfen. Das ist aber eher ein Zusatznutzen, den das Arbeiten mit dem Konzept mit sich bringt.


Bildung und Arbeit in der Förderstätte Obernzenn
Die fertigen Meisenknödel kommen in den Kühlschrank

Wie wird der Lernprozess für Menschen mit schweren Behinderungen dokumentiert?

Erhalten die Beschäftigten einen Nachweis über ihre Tätigkeit?

Ruth Eisen-Klagges: Nach der Beendigung des Projektes erhält jeder Beschäftigte ein Zertifikat, in dem die Qualifikation festgehalten wird. Außerdem erstellen wir eine „Bildungsmappe“ in der wir den gesamten Lernprozess mit Fotos dokumentieren. Diese Mappe können die Beschäftigten nutzen, um ihren Lernprozess weiterzuführen. Sie können noch einmal nachlesen, sich erinnern oder auch Fragen dazu stellen und sehen was sie geleistet haben.

Wird dieses modulare Arbeiten auch in anderen Bereichen der Förderstätte angewandt?

Ruth Eisen-Klagges: Ja, z. B. haben wir eine Dokumentation für die Neuaufnahmen in unserer Förderstätte erstellt. Dabei wird die Eingangsphase dokumentiert. In den einzelnen Modulen geht es zunächst darum, die Förderstätte kennen zulernen, die Regeln des Miteinanders zu verstehen, sich in den Räumlichkeiten zurechtfinden zu können, die Mitarbeitenden kennen zulernen und schließlich über den Tagesablauf Bescheid zu wissen. Auch diese Module werden dann allen Förderstätten innerhalb von Diakoneo zur Verfügung gestellt, so dass auch andere Einrichtungen damit arbeiten und sie speziell auf ihre Situation anpassen können.

Wie werden die Mitarbeitenden auf ihre Tätigkeit vorbereitet?

Ruth Eisen-Klagges: Bei dem neuen Konzept handelt es sich um eine Spezialisierung der bestehenden Arbeit. Dazu werden auch die entsprechenden Weiterbildungen vor allem im Bereich Didaktik nötig. Darin unterstützen wir unsere Mitarbeitenden natürlich in jedem Fall.

Arbeiten mit Menschen mit Behinderung bei Diakoneo

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Diakoneo bietet ein umfassendes Angebot: Erfahren Sie mehr über die Vorteile

Kontakt Förderstätte Obernzenn/ Rothenburg

Die Meisenknödel können direkt über die Förderstätte bzw. die Werkstatt in Obernzenn/ Rothenburg bezogen werden:

Kontakt:
FÖRDERSTÄTTE/SENIORENTAGESSTÄTTE ROTHENBURG

Ruth Eisen-Klagges
Leitung 

St. Leonhard-Strasse 28
91541 Rothenburg o. d. Tauber
Telefon: +49 9861 874779 76

FÖRDERSTÄTTE/SENIORENTAGESSTÄTTE OBERNZENN
Urphertshofen 59/60
91619 Obernzenn
Telefon: +49 9844 9783 80

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Website

Ruth EisenKlagges leitet die Förderstätte für Menschen mit Behinderung in Obernzenn/ Rothenburg.
Ruth Eisen-Klagges leitet den Wohnbereich für Menschen mit Behinderung in Rothenburg-Obernzenn.
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