Offenheit und Mut zu Neuem: Miriam Ruppert zeigt, auf was es bei der Teilhabe von Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt ankommt
Dass Miriam Ruppert mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen ist, hat sie nicht daran gehindert, ihren Traum zu verwirklichen. Nach einem Praktikum auf der Pflegestation des Sigmund-Faber-Heims in Hersbruck war sich die junge Frau sicher: Sie will in der Altenpflege arbeiten. Das war vor sechs Jahren. Noch heute ist die 30-Jährige eine große Hilfe für das Team von Diakoneo und aus dem Pflegealltag kaum mehr wegzudenken.
von Amanda Müller
Es ist kurz vor neun. Im Speisesaal des Sigmund-Faber-Heims von Diakoneo riecht es nach Kaffee und Marmelade. Die weißen Tische sind gespickt mit unterschiedlichen Tassen, Bechern und Tellern. Auf einigen der Teller liegen nur noch ein paar Brösel, auf anderen warten Marmeladenbrote - in mundgroße Quadrate geschnitten - darauf, verspeist zu werden. Aus manchen Bechern ragt ein bunter Strohhalm in die Luft.
Die Menschen, die an den Tischen sitzen, leben auf der Pflegestation des Sigmund-Faber-Heims in Hersbruck. 26 Männer und Frauen werden hier betreut. Die meisten davon sind pflegebedürftige Senioren und an Demenz erkrankt. Gemeinsam mit einigen Bewohnern aus dem Wohnbereich frühstücken sie hier jeden Morgen.
Eine Glastür schwingt auf und eine ältere Frau betritt den Raum. Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen, ihre Knie zittern und ihre Hände klammern sich an den Rollator, den sie vor sich herschiebt. Eine Altenpflegerin geht neben ihr und stützt sie am Unterarm.
„Guten Morgen“, begrüßt Lena Dangauer die Frau und hilft ihr, sich auf einen Stuhl zu setzten. Neben ihr steht Miriam Ruppert. Beide Frauen arbeiten auf der Pflegestation im Sigmund-Faber-Heim. Lena Dangauer als Stationsleiterin, Miriam Ruppert unterstützt das Team als Pflegehelferin.
Die 30-Jährige hat ihr blondiertes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Über ihr weißes Spitzenshirt hat sie den hellen Arbeitskittel geworfen. Sie hilft einem älteren Herrn gerade dabei, mit einem Strohhalm aus einem Becher zu trinken. Vorsichtig hält sie das Gefäß mit der orangefarbenen Flüssigkeit an die Lippen von Johann Gosmann. Er sitzt im Rollstuhl. Seine Augen blicken wachsam umher, seine Hände nesteln an der Lehne seines Rollstuhls. Die Demenz scheint schon so weit fortgeschritten zu sein, dass er nicht mehr alleine trinken kann. Als der Becher seine Lippen berührt, fängt er laut an zu schnaufen. Seine Pupillen wandern von links nach rechts und wieder zurück. Miriam Ruppert senkt den Becher und tätschelt Johann Gosmanns Arm. „Langsam Herr Gosmann“, sagt sie, „ruhig ein- und ausatmen und nochmal trinken.“
Miriam wartet kurz. Johann Gosmanns Atmung beruhigt sich, seine blauen Augen fixieren die blonde Frau.
Miriam Ruppert wurde mit dem Down-Syndrom geboren. Sie hat einen älteren Bruder und lebt mit ihren Eltern in Eschenbach. Ihre Behinderung hat sie aber nicht davon abgehalten, den Beruf zu ergreifen, der ihr am besten gefällt: Die Arbeit mit Senioren.
Montag bis Freitag von 8 bis 13 Uhr ist die 30-Jährige im Speisesaal der Pflegestation zu finden. Sie deckt Tische, räumt gebrauchtes Geschirr in die Küche und hat die Bewohnerinnen und Bewohner dabei immer im Blick. Benötigt einer von ihnen Hilfe, ist Miriam zur Stelle.
„Wir sind wirklich sehr froh, dass Miri da ist“, sagt Stationsleiterin Lena Dangauer. Sie arbeitet seit 2004 im Sigmund-Faber-Heim und kennt Miriam schon seitdem sie dort angefangen hat.
Die Teilhabe am Arbeitsmarkt fördert ein selbstbestimmtes Leben
Einfach mittendrin leben, wohnen und arbeiten: Menschen mit Behinderung wünschen sich ein gelingendes, sinnerfülltes und selbstbestimmtes Leben. Die Teilhabe am Arbeitsleben spielt für sie eine ebenso große Rolle wie für alle anderen Menschen. Diakoneo unterstützt Menschen mit Behinderungen dabei, Wege in solch ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu finden.
Das regelt unter anderem das Sozialgesetzbuch (SGB IX). Es umfasst alle gesetzlichen Regelungen zur Teilhabe. Menschen mit Behinderung oder von einer Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Gesetz, um ihre Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken.
Durch das Bundesteilhabegesetz (BTGH) wurde das SGB IX neu strukturiert und soll die gleichberechtigte, selbstbestimmte Teilhabe im Hinblick auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen weiter umsetzen und ausbauen.
Miriam Rupperts Arbeitsleben hat in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung der Lebenshilfe Nürnberg begonnen. Die Werkstatt kooperiert mit dem Unternehmen ACCESS, das Menschen mit Behinderung durch unterschiedliche Maßnahmen bei der Integration ins Arbeitsleben begleitet und unterstützt. Eine Maßnahme ist das „Betriebliche Arbeitstraining“, bei dem Menschen mit Behinderung verschiedene Langzeitpraktika auf dem ersten Arbeitsmarkt absolvieren und so den Weg von der Werkstatt für Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt gehen können.
Mit dem Wunsch nach einem Langzeitpraktikum ist ACCESS vor knapp zehn Jahren auf Dr. Stephan Abt zugekommen, der das Sigmund-Faber-Heim leitet. Miriam Ruppert hatte zuvor schon ein Praktikum als Näherin und eines in der Therme Hersbruck gemacht.
Am meisten gefallen hat ihr aber das Praktikum auf der Pflegestation im Sigmund-Faber-Heim.
„Als für Miriam klar war, dass sie bei uns bleiben möchte, haben wir alles in die Wege geleitet, damit das klappt“, erzählt Dr. Stephan Abt. Nachdem Miriam die Fortbildung zur Betreuungsassistentin bestanden hatte, konnte sie im Sigmund-Faber-Heim anfangen. „Miriam ist sehr offen. Wenn ich Andachten halte, hilft sie mir zum Beispiel oft und liest Texte vor“, erzählt er.
Der Einrichtungsleiter unterstützt Miriam und ihre Kolleginnen und Kollegen in allen Angelegenheiten. „Damit die Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben klappt, muss das Team offen dafür sein und Formen finden, wie sich die Menschen am besten einbringen können“, sagt er.
Lena Dangauer erzählt, dass Miriam am Anfang zum Beispiel oft allein Pause gemacht hat. „Da sie andere Arbeitszeiten hat als wir, hat sich das irgendwie so ergeben“, berichtet Dangauer. „Uns war es aber wichtig, sie in unser Team zu integrieren, so wie sie ist. Also haben wir das ziemlich schnell geändert.“
Individuelle Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung fördern
Neben der Betreuung der Senioren hat Miriam Ruppert auch andere Aufgaben.
Zwischen 9.30 und 10 Uhr geht Miriam ins Stationszimmer. Ganz links an einer Pinnwand hängt neben vielen bunten Zetteln eine weiße Liste. Miriam beugt sich nach vorne und hebt die erste Seite nach oben. In dem Feld mit dem heutigen Datum liest sie: „Rollator Fr. Helmer“. Die Liste schreibt Lena Dangauer. Sie beinhaltet die täglichen Aufgaben, die Miriam erledigen soll und helfen ihr dabei, nichts zu vergessen.
Frau Helmer sitzt an einem der hinteren Tische. Ihr Rollator steht neben ihr. „Guten Morgen Frau Helmer. Darf ich Ihren Rollator mitnehmen, ich würde ihn gern putzen“, sagt Miriam zu der älteren Dame. Vor Frau Helmer steht ein leerer Teller, die Tasse ist noch halb gefüllt. Die Dame blickt Miriam verwundert an. „Sie bekommen ihn gleich wieder“, versichert Miriam. Jetzt nickt Frau Helmer. Als Miriam ihre Hände um die beiden Griffe des Rollators legt, wird die Dame unruhig. „Halt, meine Tasche brauch ich“, ruft sie. Miriam lacht und hilft ihr dabei, die Tasche auf einen Stuhl neben ihr zu stellen. Dann kann sie den Rollator mitnehmen.
Geputzt wird in einem großen gefliesten Raum, der sich auf der rechten Seite des Korridors befindet. Neben einer Behindertentoilette befinden sich hier ein großer Spiegel und ein Waschbecken.
Die 30-Jährige zieht sich blaue Gummihandschuhe an, füllt Wasser und Reinigungsmittel in einen Eimer und nimmt sich eine Zahnbürste sowie einen Lappen aus dem Wäscheraum neben dem Badezimmer. Ihre Arbeitsschritte sind routiniert. Sie säubert erst die Seitenrahmen, dann die Räder und zum Schluss die Handgriffe. Dabei ist sie so gründlich, dass nach einer halben Stunde eine Kollegin nach ihr ruft: „Miri, wie lang brauchst du noch? Frau Helmer fragt nach ihrem Rollator.“ Miriam blickt kurz hoch, putzt aber weiter. „Ich bin gleich fertig“, antwortet sie und wischt mit einem feuchten Lappen über die Rahmen. Sie ist konzentriert bei der Arbeit und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Manchmal hört Miriam nicht auf das, was ich sage. Wenn ich gar nicht weiterkomme, rufe ich ihre Mutter an oder ihre Betreuerin“, erzählt Dangauer.
Mit „Betreuerin“ meint sie die ACCESS-Inklusionsberaterin Julia Bayer. Sie unterstützt Miriam Ruppert und trifft sich regelmäßig mit ihr. „Im Umgang mit Menschen mit Down Syndrom bringen wir ganz viel Geduld und Einfühlungsvermögen mit“, erzählt Julia Bayer. Bevor Miriam angefangen hat, hat sie ihr zum Beispiel einen Bildplan erstellt, auf dem die verschiedenen Teile von Rollstühlen oder Rollatoren eingezeichnet waren. Julia Bayer spricht mit ihr auch immer wieder die betrieblichen Regeln durch oder vermittelt auch wenn Miriams Kollegen Fragen haben.
Dass Miriam Ruppert eine Behinderung hat, scheinen die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der Pflegestation gar nicht zu bemerken. „Unsere Bewohner mögen Miri sehr“, betont Dangauer. Frau Mühlbauer bestätigt: „Miriam ist ein Engel. Sie ist so lieb.“
Miriam ist es sehr wichtig hier zu arbeiten. „Es sind alle so nett hier und lieben mich auch“, sagt sie überzeugt.