Wie der Sport dem blinden René Steinhübel Zufriedenheit,Sicherheit und Selbstbewusstsein gibt
René Steinhübel steht in der Sporthalle in Wolframs-Eschenbach. Leise raschelt der feste Baumwollstoff, aus dem die bekannten weißen Karateanzüge bestehen. Behutsam nimmt er die Arme hoch und legt die Handflächen auf Höhe seiner Brust zusammen. Dann streckt er einen Arm nach vorne und dreht sich schwungvoll nach links. René Steinhübels Bewegungen sind kontrolliert und wirken geplant. Dass der 42-Jährige fast blind ist, kann man kaum glauben. Und obwohl er nur noch fünf Prozent Sehkraft hat, schaffte er es 2017 zum Bayerischen Meister in der Disziplin Kata (Form). Wie macht er das?
von Amanda Müller
Unsere Welt ist auf das Sehen ausgerichtet. Gerade im alltäglichen Geschehen haben es Blinde schwer. Sport scheint unmöglich zu sein. Wie soll man etwas treffen, das man nicht sieht? Wie werfen, wenn man kein Ziel vor Augen hat? Karate, ein Sport, bei dem man schnell auf die Bewegungen des Gegners reagieren muss? Ohne sie zu sehen, unmöglich, oder? Nicht für René Steinhübel.
„Blind zu sein ist für mich kein Hindernis“, betont der 42-jährige. Sein drahtiger Körper steckt in dem weißen Karateanzug. Ein schwarzer Gürtel, die höchste Auszeichnung im Karatesport, ist um seine Taille gewickelt. Er trägt eine dunkle Sonnenbrille. René Steinhübel sitzt auf der Terrasse der Sportanlage in Wolframs-Eschenbach. Hier findet heute der Karate Lehrgang „Dojo Sochin“ statt. Die erste Einheit „Das Wissen der alten Meister“ ist zu Ende. Das Training war anstrengend und René will sich kurz ausruhen. Neben ihm liegt sein Hund. Still und trotzdem aufmerksam verfolgt der Labrador jede Bewegung seines Herrchens. René Steinhübel streckt die Hand aus und tastet nach dem Kopf des Hundes, den er dann sanft streichelt. „Das ist Marlon, mein Blindenhund. Er ist seit fünf Jahren bei mir“, erklärt er.
Wohin er auch geht, Hund Marlon kommt immer mit. Die beiden sind ein eingespieltes Team und Marlon hört auf jedes Kommando seines Herrchens. Deswegen ist er auch ein willkommener Gast bei Karatewettkämpfen, Lehrgängen und Workshops. Wenn René Steinhübel in der Halle ist, wartet Marlon brav vor der Tür. Marlons Decke und Äpfel, seine Lieblingsspeise, nimmt René immer mit.
Nach der kurzen Pause in der Sonne steht René Steinhübel auf. Er greift nach Marlons Leine und seinem Blindenstock. Langsam tastet er sich seinen Weg nach vorne. Die Terrasse ist groß. Es gibt Bänke, mehrere Tische und Sonnenschirme. Neben dem Karate Lehrgang findet heute auch ein Kinder-Fußballspiel statt. Auf dem Weg, den René nehmen muss, liegt ein Gartenschlauch. Auch ein paar Rucksäcke liegen auf dem Boden verteilt. Sie gehören einigen der Kinder, die auf dem Platz Fußballspielen. Die Hindernisse sieht René nicht. Deswegen springt ein Mann auf. „Moment, ich räum schnell die Taschen weg“, ruft er. René hält inne. Er bedankt sich und wartet kurz. Nachdem sich Marlon wieder in Bewegung setzt, weiß auch René, dass er jetzt weiterlaufen kann ohne über etwas zu stolpern. Sein Stock ertastet den Gartenschlauch und René bahnt sich langsam seinen Weg nach vorne.
Karate bedeutet für ihn Spaß, Sicherheit und Selbstvertrauen
Während René Steinhübel auf der Straße mit seinem Hund und Blindenstock auffällt, muss man während des Trainings zweimal hinschauen, um ihn zu entdecken. Einzig die Sonnenbrille unterscheidet ihn von den anderen Karateka. Hund Marlon wartet brav am Rand, daneben liegt auch der Blindenstock. Den braucht der blinde Karateka in der Sporthalle nicht. Er führt die Anweisungen des Meisters fehlerfrei aus. Seine Bewegungen sind flüssig, die Figuren perfekt ausgeführt. Weil er nichts sieht, kann er die Bewegungen des Meisters nicht einfach nachmachen, er muss sie perfekt beherrschen. René Steinhübel verlässt sich auf sein Gehör und ist während des Trainings hochkonzentriert.
„Wenn ich Karate trainiere, kann ich ganz ich selbst sein“, sagt der 42-Jährige. Mehrmals die Woche trainiert er, besucht, so oft er kann, Schulungen und Workshops, nimmt an Wettkämpfen teil und ist sehr erfolgreich.
Mithilfe seiner Trainer Jürgen Müller und Lothar Kreutner legte er im Frühjahr 2017 in Adelshofen die Prüfung für den schwarzen Gürtel (1. Dan) erfolgreich ab. Im Oktober 2017 nahm René Steinhübel an den Bayerischen Meisterschaften in der Klasse „Blinde und Sehbehinderte“, in der Disziplin Kata (Form) teil.
„Ich war echt nervös, aber ich konnte mich gegen meine Mitstreiterinnen aus Russland durchsetzen und auf den ersten Platz kämpfen“, freut er sich.
Der Erfolg ging für ihn auch dieses Jahr weiter: Als er das erste Mal beim Haunwöhrer Cup in der Nähe von Ingolstadt für Menschen ohne Behinderung teilnahm, belegte René Steinhübel auch hier den ersten Platz in der Disziplin Kata (Form).
Dafür trainierte er hart. Für Meisterschaften bereitet er sich mehr als vier Monate intensiv auf die Wettkämpfe vor. Und das schon seit vielen Jahren. Zum Karate kam er schon, als er noch sehen konnte. Als Jugendlicher erlernte er die Selbstverteidigung bei seinem Nachbarn Lothar Kreutner (4. Dan), der auch Karatetrainer ist.
So führte eines zum anderen.
„Karate hat mir schon immer sehr viel Freude bereitet. Das wollte und konnte ich nicht aufgeben“, erzählt er von dem entscheidenden Moment, in dem sich sein Leben für immer änderte.
„Mit 15 habe ich schon gemerkt, dass mit meinen Augen etwas nicht stimmt. Als ich 18 Jahre alt geworden bin, wurde bei mir dann ein Gendefekt festgestellt. Seitdem löst sich meine Netzhaut immer weiter auf. Heute sehe ich nur noch 5 Prozent“, erzählt er. Die Krankheit war für ihn damals ein Schock. Plötzlich zu erblinden ist nicht einfach. Doch davon ließ sich der Sportler nicht einschüchtern.
Er hat eine Tochter und trotz fortschreitender Erblindung alles dafür getan, um eine Arbeit zu finden. „Als ich immer schlechter sehen konnte, hab ich die Blindenschrift gelernt und 2005 eine Ausbildung zum Telefonisten gemacht“, sagt er. „Ich habe in vielen Bereichen gearbeitet. Funktioniert hat es aber auf Dauer nie, denn reine Telefonisten gibt es leider selten. Telefonieren ist kein Problem, aber zusätzlich noch Überwachungskameras beobachten oder Formulare ausfüllen, kann ich eben nicht“, bedauert er.
Deswegen ist er froh, dass er trotz seiner Blindheit Karate trainieren kann. Der Sport gibt ihm viel.
Erfolgreich sein bedeutet ein gutes Gespür und jede Menge Vertrauen haben
Mit seinem Hund Marlon lebt René Steinhübel in Wemding. Er wohnt alleine. Mitarbeitende der Offenen Hilfen der Diakonie Neuendettelsau unterstützen ihn, wo es nötig ist. Doch der 42-Jährige kommt ganz gut alleine zurecht. Die Anreise auf Workshops oder Wettkämpfe plant er selbst. „Ich habe eine Spracherkennung am PC und ein Vorlesesystem, mit dem ich Mails lesen und schreiben kann“, erzählt er.
Auch Einkaufen oder Arztbesuche meistert er am liebsten alleine.
Er geht gern stundenlang mit seinem Blindenhund Marlon spazieren und hört Hörbücher. Den Großteil seines Lebens hat er dem Karate gewidmet. Seit 1991 trainiert er vier Tage die Woche im TSV Wemding in der Judo-Karate-Abteilung und ist dort sogar Co-Trainer.
Dabei verlässt er sich auf sein Gespür, auf Gerüche und Luftzüge. Wichtig für seinen Erfolg sind auch seine Kameraden und Trainingspartner. In Meisterschaften wird er meist in der Disziplin Kata bewertet. Kata ist die Anwendung der Form, also die richtige Ausführung der Bewegungen.
Die zu lernen wenn man nichts sehen kann, ist nicht einfach. „Neue Formen zu üben, ist für mich sehr kompliziert. Es gibt nur visuelles Lernmaterial, also Videos und Lehrbücher. Die Lehrbücher kann ich mir vorlesen lassen und bei den Videos muss ich jedes Mal einen großen Aufwand auf mich nehmen, damit ich sie mit Spracherklärungen erhalte“, erzählt er.
Eine weitere Herausforderung sind Karateeinheiten mit einem Gegner. „Wir sprechen unsere Formen und Kommandos vorher ab, damit ich richtig reagieren kann. Da gehört großes Vertrauen dazu“, sagt der Karateka und betont, dass seine Kameraden sehr offen und zuvorkommend sind. „Der Sport ist für mich wie eine Familie. Als ich noch sehen konnte, war ich bei der Freiwilligen Feuerwehr. Auch dort gab es ein großes Wir-Gefühl. Das schätze ich wirklich sehr“, freut er sich.
Der Sport bringt ihm Freude. Karate schult Koordination, Konzentration und Beweglichkeit. Mit Fairness und Teamgeist trainieren Menschen mit Behinderung mit den Karatekas ohne Handicap und profitieren voneinander.
„Wenn ich Schwierigkeiten mit Erfolg meistere, bin ich stolz“, meint René Steinhübel. Er schätzt auch das Wissen der Meister und die besonderen Lehrsätze. „Wir glauben, dass nichts unmöglich ist. Es kommt immer auf den Geist und den Willen des einzelnen Karatekas an. Dabei ist es egal, wie alt man ist“, sagt er.
Diese Leitsätze bewahrt er auch außerhalb des Trainings. In seinem Leben hat er schon viel erlebt. Ihm ist es wichtig, etwas zu haben, das ihn weiterbringt. Deswegen hat René Steinhübel nie aufgegeben, auch wenn er oft auf Ablehnung trifft. „Wenn ich mich in einem Geschäft nicht auskenne und Fremde um Hilfe frage, passiert es schon, dass sich die Menschen dann wegdrehen. Das macht mich traurig“, erzählt er. Auch bei solchen negativen Erfahrungen hilft ihm der Sport. „Ich fühle mich nachts sicherer. Weil ich Marlon dabei habe und weil ich mich wehren kann, wenn etwas passiert“, sagt er.
Seine Lebensfreude hat der blinde Karateka in all der Zeit nicht verloren. „Ich war anfangs oft alleine, das ist nicht schön. Aber man ist seines eigenen Glückes Schmied“, versichert er. „Es ist wichtig, dass man etwas für sich tut und raus kommt.“
Sportangebote für Menschen mit Behinderung
Dass Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen oder Blinde Sport machen, ist nicht ungewöhnlich. Es gibt Blindensport im Tennis, Kegeln, Fußball oder Schwimmen. Vereine oder Einrichtungen unterstützen sie dabei. Für Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung gibt es viele Möglichkeiten, die unterschiedlichsten Sportarten auszuführen. Die Diakonie Neuendettelsau bietet in allen Regionen umfassende Sportangebote, die für alle Menschen mit Behinderung offen sind. Nähere Informationen erhalten Sie unter https://www.diakonieneuendettelsau.de/menschen-mit-behinderung/