Fastenpredigten 2018: "Zeit des Umbruchs - Zeit des Aufbruchs"
Wo sind die Orientierungspunkte in der heutigen Zeit?
Die Fastenpredigten in der Neuendettelsauer Laurentiuskirche stehen in diesem Jahr unter dem Motto „Zeit des Umbruchs – Zeit des Aufbruchs – Woran orientieren wir uns heute?“.Zum Auftakt am Sonntag, 18. Februar, predigt die Erlanger Publizistik-Professorin Johanna Haberer über das Thema „Im Netz (auf)gefangen – Überwacht oder umsorgt durch digitale Medien“. Die Theologin war lange in der Medienarbeit tätig und ist vielen noch als Sprecherin des „Wortes zum Sonntag“ in Erinnerung.
Rektor Dr. Thilo Daniel, der theologische Leiter der Diakonissenanstalt Dresden, widmet sich am 25. Februar dem Thema „Gesellschaft im Wandel – Wie finden wir Gerechtigkeit für alle? Wie finden wir Gerechtigkeit für den Einzelnen?“
Der frühere Vizepräsident des Europäischen Parlaments Dr. Ingo Friedrich spricht am 4. März über „Europa im Umbruch – Verspielen wir Frieden und Freiheit?“ Seit 2015 ist Friedrich Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule Fürth.
Den Abschluss der Reihe bildet am 11. März die Predigt von Prof. Dr. Johannes Eurich vom Diakoniewissenschaftlichen Institut der Uni Heidelberg zur Frage „Diakonie zwischen Anspruch und Markt – Ist Nächstenliebe berechenbar?“
Alle Gottesdienste beginnen um 9.30 Uhr. Anschließend findet ein Predigtnachgespräch im Konferenzraum des Mutterhauses statt.
Im Vorfeld seiner Fastenpredigt am 4. März zum Thema "Europa im Umbruch" hat Günther Hiessleitner dem Fastenprediger Dr. Ingo Friedrich Fragen zu den künftigen Herausforderungen der Europapolitik gestellt:
Wird Ihnen als engagierter Europapolitiker Bange, wenn Sie in die Zukunft schauen?
Dr. Friedrich: Ja, so ein erster Blick auf die europäische Entwicklung der letzten Monate und Jahre lässt einen schon etwas sorgenvoll in die Zukunft blicken. Es tritt ein Staat aus, besonders populistische Parteien bewegen sich intensiv in Richtung mehr nationaler Unabhängigkeit und Europa tut sich schwer bei ganz schwierigen Fragen Kompromisse zu finden, etwa bei der Flüchtlingsfrage. Es stellt sich die Frage: ist Europa in der Lage, hat es die Kapazität wirklich zusammen zu bleiben und miteinander die Zukunft zu bewältigen? Andererseits kommt eine nüchterne Analyse zu dem Ergebnis, dass viele der akuten, großen Probleme, sei es Sicherheit, sei es Umwelt, sei es Fragen zur Zulassung von Medikamenten, Kontrolle von Lebensmitteln, auf nationaler Ebene allein nicht mehr lösbar sind. Große Probleme können wirklich nur noch gemeinsam auf europäischer Ebene gelöst werden.
Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die im November 2017 veröffentlich wurde, hat ergeben, dass junge Menschen „Europa-Fans“ sind. 77 Prozent der deutschen Jugendlichen hatten sich bei einer Umfrage für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Auch in Österreich (71 Prozent), Ungarn (65 Prozent), Polen und Slowakei (64 Prozent) und Tschechien (60 Prozent) gab es bei den Jugendlichen ein deutliches Pro-Europa-Votum. Sollte das nicht zum Anlass genommen werden, auf die Jugend zu setzen und noch mehr internationalen Austausch zu fördern?
Dr. Friedrich: Die Umfragen sind ein sehr ermutigendes Signal, dass insgesamt gerade die jungen Menschen europäisch denken. Ich würde deshalb dafür plädieren, den internationalen Austausch noch mehr zu fördern. Persönliche Erfahrungen sind durch nichts zu ersetzen. Nehmen wir folgendes Beispiel: Ein polnischer Nationalist, der mit deutschen Jugendlichen diskutiert, hat bestimmt eine andere Sicht der Dinge, als jemand, der den europäischen Austausch nicht kennt. Deshalb sollten Städtepartnerschaften, ein Jugend- oder Studentenaustausch noch mehr gefördert werden. Dadurch wird die Chance erhöht, dass man einander besser versteht. Auch die Deutschen müssen lernen, dass wir als sogenanntes großes Land nicht mehr nur souverän sein können, sondern dass heute viele Lösungen nur durch Kompromisse erreicht werden können. Kompromisse, die zum Teil auch wehtun, wenn wir zum Beispiel Geld nach Griechenland zahlen. Solche Kompromisse sind aber unvermeidbar. Wir können nicht mehr nur das nationale Gemeinwohl im Blick haben. Es geht um ein europäisches Gemeinwohl und das ist oft nicht identisch mit den rein nationalen Sichtweisen. Wenn durch einen internationalen Austausch darüber diskutiert wird, ist das sicher für den europäischen Einigungsprozess sehr, sehr hilfreich.
Wo sehen Sie die großen Errungenschaften der Europäischen Union?
Dr. Friedrich: Wir haben das ja schon fast vergessen, aber wenn wir die letzten 50 oder 60 Jahre so vorbeiziehen lassen, dann sind erstaunliche Fortschritte möglich gewesen. Deutschland ist umgeben von Partnerländern; die Wiedervereinigung war möglich und wir konnten alle Diktaturen in Europa abschaffen. Wir sind ein Hort der Menschenrechte und aus globaler Sicht gilt heute Europa als der für Menschen attraktivste Teil der Welt. Wir liegen da noch vor den USA. Wenn man das mit der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht, als Europa am Boden lag, sind das Fortschritte, die zum Beispiel in den 50er Jahren als nicht erreichbar erachtet worden wären. Wir haben mehr erreicht, als die Gründerväter sich je erträumt haben. Wir müssen dafür kämpfen, dass den Menschen das mehr bewusst wird und diese Errungenschaften nicht durch rein nationale Bestrebungen verspielt werden dürfen. Es wird auf dieser Welt das Paradies nie geben, aber Europa ist näher dran als viele andere Länder auf dieser Welt, auch was die Achtung der Menschenwürde betrifft.
Sie haben die vielen positiven Errungenschaften aufgezählt. Ist es nicht so, dass für die meisten Menschen in Europa die EU in erster Linie mit finanziellen Fragen und Problemen in Verbindung gebracht wird. Wurden hier nicht auch Fehler in der Kommunikationsstrategie gemacht?
Dr. Friedrich: Ja, die Politik beschäftigt sich meistens mit wirtschaftlichen Aspekten. Aus heutiger Sicht wäre es vielleicht notwendig gewesen, an den Schulen, an den Universitäten die Grundidee Europas besser zu begründen und nicht zu warten, bis durch Dinge wie den Brexit oder die Verteilung der Flüchtlinge ein Lernprozess erzwungen wird. Den Bürgern Europas muss bewusster werden, dass heute die nationale Souveränität nicht mehr ausreicht. Es ist eine gemeinsame Ausübung von Souveränität auf europäischer Ebene erforderlich. Dieser Lernprozess fällt gerade den Osteuropäern noch schwer. Sie sehen nach der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Fall des Eisernen Vorhangs ihren Traum erfüllt, dass sie als Nation souverän sein können. Ich hoffe sehr, dass sich auch in diesen osteuropäischen Staaten ein Lernprozess durchsetzt, dass viele Probleme nur auf europäischer Ebene lösbar sind – unter Aufgabe rein nationaler Sichtweisen. Wir müssen den Begriff „Souveränität“ neu definieren. Was bedeutet heute Souveränität? In vielen Bereichen, wenn es zum Beispiel um technische Standards geht oder um die Zulassung von Medikamenten, um den Versicherungsschutz oder die Kennzeichnung von Nahrungsmitteln, können die Dinge nicht mehr rein auf nationaler Ebene gelöst werden. Zumal Millionen von Menschen über nationale Grenzen hinaus tätig sind und dabei eine gewisse soziale Sicherheit wollen. Eine gezielte Kommunikationspolitik in dieser Richtung ist sicher etwas vernachlässigt worden und man hat sich zu sehr mit wirtschaftlichen Aspekten befasst.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Zukunft in Europa?
Dr. Friedrich: Ich sehe vor allem drei Punkte: Nach wie vor müssen wir sehen, wo die EU mit Geld helfen kann, wenn dies erforderlich ist. Gleichzeitig müssen vielfach aber auch Strukturreformen angestoßen werden. Vor allem betrifft das die südlichen Regionen Europas, zum Beispiel Süditalien, Südfrankreich, oder Griechenland. Hier muss vor allem die Jugendarbeitslosigkeit bewältigt werden. Diese notwendigen Strukturreformen werden nicht überall auf Gegenliebe stoßen. Leider hat es der liebe Gott offenbar so konstruiert, dass häufig das Unpopuläre langfristig das Richtige ist.
Die zweite, große Herausforderung wird die Bereitschaft der Europäer sein, nach dem doch sichtbaren Rückzug der USA aus vielen Bereichen, etwa aus der Politik des Freihandels oder aus dem Klimaabkommen, an der Stabilisierung weltpolitischer Themen mitzuwirken. Hier habe ich weniger das Militär im Auge, obwohl man das auch nicht ausschließen darf, sondern die Notwendigkeit, das Europa mehr globale Verantwortung übernimmt. Das wird Nerven kosten, das kostet Geld, das kostet Kapazität, das kostet Ideen. Wir müssen offensiv eintreten: für Menschenrechte, für Stabilität, für Frieden und für die Entwicklung von Regionen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Wir müssen hier ein stückweit die USA vertreten, denn in dem Moment, wo auf globaler Ebene ein Vakuum entsteht, stoßen sofort andere Kräfte, insbesondere China oder auch Russland hinein. Und das Hineinströmen derartiger Kräfte ist weder im Sinne Europas noch im Sinne der Bürger, die davon betroffen sind.
Drittens brauchen wir den Rückhalt der Bürger, damit wir neue, gemeinsame Formen der Souveränitätsausübung erlernen können. Also nicht mehr die nationale Souveränität in den Vordergrund stellen, sondern eine länderübergreifende, europäische Souveränität. Und dies bedeutet konkret, die Bereitschaft, Kompromisse zu akzeptieren. Beispiel: Die Deutschen sagen, wenn wir Geld nach Griechenland geben, können wir es gleich zum Fenster rauswerfen. Die Griechen wiederum sagen, wenn uns die reichen Deutschen ein paar Brosamen abgeben, spüren die das überhaupt nicht und uns hilft das gigantisch. Diese Kompromisse, die notwendig sind, zu akzeptieren, das muss gelernt werden. Und es gibt keinen Kompromiss, wo es nur Vorteile gibt. Jeder Kompromiss beinhaltet die Akzeptanz von Nachteilen.