Namen, die uns mahnen – Gedenken an die Opfer der „Euthanasie“ vor 80 Jahren

Zahlreiche Menschen mit einer Behinderung fielen der Aktion "T4" zum Opfer

Vor 80 Jahren wurden die meisten Menschen mit Behinderung aus Neuendettelsau, Bruckberg, Engelthal, Himmelkron und Polsingen im Rahmen der Aktion "T 4" in eigens eingerichtete Tötungsanstalten verlegt.
2021 wird Diakoneo in verschiedenen Veranstaltungen den Opfern gedenken und seine Geschichte weiter aufarbeiten. Unter anderem wird es eine Outdoor-Ausstellung geben. 
Mehr über die Ausstellung finden Sie hier.

Von Dr. Heike Krause und Matthias Honold

Am 7. September 1940 verließ eine staatliche Kommission die Neuendettelsauer Diakonissenanstalt. In 5 Tagen hatten diese über 1700 Akten von Menschen mit Behinderung gesichtet, um die Bewohner der Einrichtungen in Neuendettelsau, Bruckberg, Engelthal, Himmelkron und Polsingen zu erfassen. Die Erfassung diente der Zusammenstellung von Meldelisten, welche an die „T4“-Zentrale, so die spätere Bezeichnung für die Organisation, nach Berlin gesandt wurden. Dort wurde über das weitere Schicksal dieser Menschen entschieden. Ärzte sichteten die Unterlagen und fällten ihr Urteil über Leben und Tod. Die unter dem Namen „Euthanasie“ bezeichneten Vorgänge hatten das Ziel, unheilbar kranke Menschen, Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankungen zu töten. Dafür wurden eigens Tötungsanstalten in Hadamar, Grafeneck, Prirna-Sonnenstein, Brandenburg, Bernburg und Hartheim eingerichtet.


Namen, die uns mahnen
Namen, die uns Mahnen – von Hand geschrieben in St. Laurentius | Neuendettelsau © Diakoneo

Von über 1700 betreuten Menschen mit Behinderung wurden über 1200 im Rahmen der „Euthanasie“-Aktion in den Jahren 1940 bis 1945 aus den Einrichtungen der Neuendettelsauer Diakonissenanstalt in staatliche Heil- und Pflegeanstalten verlegt. Über 900 von ihnen wurden in den Tötungsanstalten und den staatlichen Heil- und Pflegeanstalten ermordet. Zu den ersten Opfern zählten die Menschen mit Behinderung jüdischen Glaubens. Ihre Deportation begann vor 80 Jahren im September 1940. Die zahlenmäßig größten Verlegungen fanden im Frühjahr 1941 statt, ehe die Aktion T4 im August 1941 beendet wurde. Die Tötungen gingen trotzdem in den Heil- und Pflegeanstalten weiter. Auch aus Neuendettelsau wurden bis 1945 Menschen weiter verlegt.

186 Menschen aus der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall fielen der "Euthanasie" zum Opfer

Auch die Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall war von den „Euthanasie“-Maßnahmen betroffen. In Hall diente vor allem das Gottlob-Weiser-Haus als Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Über 600 „Pfleglinge“, so die zeitgenössische Bezeichnung wurden in den verschiedenen Häusern betreut. Am 14. November 1940 beschlagnahmten NS-Behörden das Gottlob-Weißer-Haus mit der Vorgabe, dass das Gebäude innerhalb einer Woche von Mensch und Mobiliar geräumt sein müsse. Ein Großteil der Patienten konnte im Diak selbst untergebracht werden. Jedoch 33 Patienten mussten der Heilanstalt Christophsbad in Göppingen und 240 der Heilanstalt in Weinsberg überstellt werden. 186 von ihnen (darunter 52 Kinder) wurden 1940 und 1941 in Grafeneck und Hadamar getötet. Das jüngste Opfer war 3 Jahre , das älteste 84 Jahre alt. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Behindertenarbeit (2000) wurde vor dem Gottlob-Weißer-Haus ein Gedenkstein für die Euthanasie-Opfer enthüllt und zum 75. Jahrestag der Beschlagnahme des Heims (2015) in der Auferstehungskirche ein Gedenkbuch mit sämtlichen Name der Opfer hinterlegt.


Gedenkstein vor dem Gottlob-Weißer-Haus
"Ich habe dich unauslöschlich in meine Hände eingezeichnet, spricht der Herr. Jes. 49,16." Vor dem Gottlob-Weißer-Haus erinnert ein Gedenkstein an die Euthanasieopfer. © Dr. Heike Krause

Diakoneo ist aktiv bei der Aufarbeitung der Vergangenheit

Diakoneo, der Zusammenschluss der beiden Diakoniewerke Neuendettelsau und Schwäbisch Hall, ist sich seiner Verantwortung bewusst. Vielfältige Aufarbeitungsarbeit wurde seit den 1980er Jahren betrieben, um die Ereignisse von damals nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. An vielen Orten erinnern heute Gedenktafeln, Stelen und Mahnmale an die Geschehnisse Anfang der 1940er Jahre. 

Gedenkstein in Polsingen
"Herr, vergib uns unsere Schuld" - in Polsingen erinnert ein Findling an die Opfer der Euthanasieverbrechen. © Diakoneo

In Neuendettelsau erinnert in St. Laurentius eine Stele aus Alabaster und Mooreiche an die Opfer der "Euthanasie". In Iherer Ansprache anlässlich der Enthüllung geht Altoberin Irmtraud Schrenk auf die Hintergründe ein: "Die Mooreiche, die lange unter der Erde lag, ist ans Licht gekommen. Wir denken an unsere ermordeten Bewohnerinnen und Bewohner, die zu unserer Vergangenheit wie auch zu unserer Gegenwart gehören. Wir wollen und dürfen die Vergangenheit nicht verdrängen. Nicht nur dieser uns damals anvertrauten Menschen wegen, auch wegen uns selbst, wegen unserer Menschenwürde, wegen unserer Redlichkeit und Glaubwürdigkeit heute."

Erinnerung an die Opfer der "Euthanasie"
Mooreichen-Stele. In Erinnerung an die Opfer der "Euthanasie" © Diakoneo

Literaturhinweise

  • Christine-Ruth Müller/Hans-Ludwig Siemen: Warum sie sterben mußten. Leidensweg und Vernichtung von Behinderten aus den Neuendettelsauer Pflegeanstalten im „Dritten Reich“. Neustadt-Aisch 1991.
  • Heike Krause: „Einem Menschen Nächster sein." Die Geschichte des Evangelischen Diakoniewerks Schwäbisch Hall. Schwäbisch Hall 2005.
  • Karl Fuchs: Neuendettelsauer Behindertenarbeit im Dritten Reich. In: ZfbK 2002, 71. Jg., S. 153ff.
Dr. Heike Krause ist Archivarin im Diak Mutterhaus in Schwäbisch Hall.
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Matthias Honold leitet das Archiv und die Zentralbibliothek von Diakoneo in Neuendettelsau.
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